Eine fast perfekte Lüge
Haar, damit es noch ein bisschen wirrer wirkte, dann kniff er sich mehrmals fest in die Wangen, um den Anschein von Fieber zu erwecken. Nachdem er sich mit einem schnellen Blick durch die Gitterstäbe überzeugt hatte, dass noch kein Wärter in Sicht war, nahm er die Bibel – die Elena ihm bei einem früheren Besuch mitgebracht hatte – von dem kleinen Tischchen und setzte sich damit auf seine Pritsche. Er schlug sie auf und begann mit dem Daumennagel vorsichtig die innere Abdeckung des Umschlags aufzuschlitzen. Dann zog er das Papier ab, sodass der Buchrücken nackt vor ihm lag, in dessen Falten eine kleine Plastikphiole steckte. Vorsichtig nahm er sie heraus und hielt sie ins Licht. Die Nadel darin war kaum dicker als der Faden einer Glühbirne. Sie wirkte absolut harmlos, aber Calderone wusste, dass ihn schon der kleinste Stich der Hölle näher bringen würde, als ihm recht sein konnte. Dennoch war die Nadel seine einzige Chance, hier herauszukommen.
Als er Schritte hörte, die näher kamen, ließ er die Phiole rasch in der Brusttasche seines Hemds verschwinden. Dann klappte er die Bibel zu, legte sie wieder auf den Tisch zurück und ging schnell zum Waschbecken. Er spritzte sich eine Hand voll Wasser ins Gesicht und machte auch seinen Haaransatz nass, damit es so aussah, als ob er schwitzte. Schließlich setzte er sich mit hängenden Schultern wieder auf seine Pritsche.
„Los, Bewegung, Calderone. Besuch“, sagte einer der beiden Wärter unfreundlich.
Als Calderone aufstand, schwankte er leicht.
„Zurücktreten.“
Wieder tat Calderone, was man ihm befohlen hatte, indem er einen Schritt zurückwich, dann wartete er, bis aufgeschlossen wurde.
Nachdem die Tür offen war, hielt ihm einer der Aufseher ein Paar Handschellen unter die Nase. „Vortreten und Hände ausstrecken.“
Calderone gab vor zu taumeln.
„Was ist denn?“ fragte der Wärter, während er den Gefangenen brutal zu sich heranzerrte, um ihm die Handschellen anzulegen.
Calderone bekam vor Wut Herzklopfen, aber äußerlich blieb er vollkommen ruhig. Es war unklug, Emotionen zu zeigen, und zum Glück musste er sich ja heute zum letzten Mal einer derart entwürdigenden Behandlung unterziehen lassen.
„Nichts“, gab er zurück und fuhr sich über die Stirn, wie um sich den Schweiß abzuwischen.
Die Wärter schauten erst auf Calderone, dann wechselten sie einen Blick und zuckten mit den Schultern.
„Los jetzt“, sagte der eine.
Calderone setzte sich in Bewegung. Am liebsten hätte er triumphierend aufgelacht. Morgen um diese Zeit würde er frei sein. Und wenn er sich um Slade und dessen Sohn gekümmert hatte, würde er endlich wieder in seinem geliebten Kolumbien sein.
Das Stillsitzen hatte noch nie zu Abraham Hollisters Stärken gehört, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, mit seinen Schwächen zu hadern. Er musste innerlich völlig entspannt bleiben, damit das, was in den nächsten Minuten passieren würde, auch tatsächlich echt wirkte. Natürlich wusste er, dass er einer Straftat Vorschub leistete und dass er, falls dies herauskam, dafür bestraft werden konnte. Trotzdem war er bereit, noch ein letztes Mal ein Risiko einzugehen; danach würde er sich endgültig aus dem Geschäft zurückziehen. Zu diesem Zweck hatte er sich bereits vor drei Jahren in der Schweiz unter falschem Namen ein Haus gekauft – einem Namen, unter dem er auch in Zukunft weiterleben würde. Durch die Arbeit für Calderone war er zwar ein reicher Mann geworden, hatte jedoch Probleme, nachts zu schlafen. Und was für einen Sinn hatte das ganze Geld, wenn er es nicht ausgeben konnte, weil er im Gefängnis saß.
Eingedenk seiner Rolle holte er die Morgenzeitung aus seinem Aktenkoffer, schlug die Börsennachrichten auf und begann zu lesen. Er war gerade beim NASDAQ angelangt, als sich die Tür zum Besucherraum öffnete. Schnell faltete er die Zeitung zusammen und stand auf. Calderones Auftritt wirkte so echt, dass er beinahe selbst darauf hereingefallen wäre. Der Mann kam, hochrot im Gesicht, hereingetaumelt und wirkte, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.
Mit gespielter Bestürzung ging Hollister eilig auf Calderone zu und fuhr die beiden Wärter an: „Was ist mit dem Mann los? Warum haben Sie ihn nicht auf die Krankenstation gebracht?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich mit besorgtem Gesicht an den Gefangenen. „Mr. Calderone?“
Calderone schwankte und fasste sich ans Herz. Dabei zerbrach die Phiole, die er sich in die linke
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