Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
gebildeter bist als der übliche Laufbursche, Quinn, musst du vielleicht feststellen, dass die anderen – tja, nicht so schnell mit dir warmwerden. In solch einem Augenblick denke an den Rat, Kind, die andere Wange hinzuhalten, und dass von denjenigen, welchen viel gegeben ist …« Harkness hielt erwartungsvoll inne.
»Viel erwartet wird«, murmelte Mary. Die Genugtuung in Harkness’ Blick kam ihr bekannt vor. »Darf ich gehen, Sir?«
Das Zucken wieder. »Ja, ja, lauf schon los.«
Sie war nur zu erleichtert zu entkommen. Drei Minuten und zwei riesige Patzer. Wenn das so weiterging, würde sie keine Stunde durchhalten. Und das, obwohl ihr die Rolle eines armen Arbeiterkindes ja nicht fremd war.
Diese Erkenntnis war ein tiefer und unerwünschter Schock.
Fünf
M ary hielt Ausschau nach aufgeschichteten Backsteinen und Männern mit Maurerkellen. Das bot eine gute Gelegenheit, das Gelände abzuschreiten und alle Ecken auszukundschaften. Der St. Stephen’s Turm war der letzte Teil des Palastes, der noch fertiggestellt werden musste. Da die Parlamentsgebäude täglich benutzt wurden und von dicht bebauten Straßen umgeben waren, blieb wenig Platz, um Baumaterial und Ausrüstung außerhalb der Baustelle zu lagern.
Dennoch kamen Mary die Abläufe und die gesamte Baustelle furchtbar chaotisch vor. Wobei sie natürlich wenig Ahnung von dem ganzen Gewerbe hatte. Nicht zum ersten Mal, seit sie diesen Auftrag angenommen hatte, dachte sie an James Easton. Sie hätte viel für seinen Eindruck von der Baustelle und dem Auftrag gegeben. Doch das war eine rein theoretische Versuchung, denn James war in Indien, und sie würde ihn nie wiedersehen.
Schließlich entdeckte sie einen blonden Mann, dervor sich hin pfiff, während er etwas Mörtel auf ein Mörtelbrett klatschte. »’tschuldigung – Mr Keenan?« Mary versuchte, möglichst unterwürfig und zöger lich zu sprechen.
Der Mann sah auf. Seine gute Laune passte nicht zu seinem Gesicht, das Spuren einer Prügelei zeigte: ein geschwollenes Auge und eine blutunterlaufene, aufgeplatzte Lippe. »Was gibt’s?«
»Mr Harkness hat mich geschickt. Ich soll hier aushelfen.«
»Ach so. Da musst du zu Keenan – der dunkle Bursche da drüben.« Er deutete auf einen großen, untersetzten Mann, der in der Nähe stand. Er sah äußerst unwirsch aus, aber auch ohne diesen düsteren Blick hätte Mary erkannt, dass es sich um den Mann handelte, der sie vor noch nicht mal einer halben Stunde angefahren hatte. Sie seufzte tief. Klar, dass der schlecht gelaunte Maurer der Vorarbeiter war. Nun, vielleicht war das auch für Wicks Tod relevant.
Sie näherte sich ihm zögernd, denn er war eindeutig in Gedanken versunken.
»Du bist verdammt klein«, erwiderte er, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
»Aber stärker, als ich aussehe.«
»So? Hoffen wir’s.« Irgendwie schaffte er es, seine Worte wie Drohungen klingen zu lassen. Und er war auch nicht freizügig damit: Er nickte in Richtung eines Stabs, der auf dem Boden lag. »Dann bist du heute der Muldenträger für Reid.« Dann ließ er sie stehen.
Mary zerbrach sich den Kopf, wofür dieses Gerät sein mochte: ein langer Stab, an dessen Ende sich drei hölzerne Bretter befanden, die zusammen drei Seiten einer Kiste bildeten. Vielleicht konnte sie den gut gelaunten jungen Mann um Hilfe bitten. Doch als sie sich nach ihm umsah, war er mit seinem Mörtelbrett und der Kelle verschwunden.
Als Keenan nach ein paar Minuten wiederkam, war sein Gesicht rot angelaufen vor Ärger. »Lungerst du immer noch hier rum? Hab doch gesagt, du sollst anfangen.«
»Tut mir leid. Ich weiß nicht, wie das funktioniert.«
Sein Gesicht lief noch dunkler an. »Nichtsnutziger Bengel. Noch nie ’ne Tragmulde gesehen?«
»N-nein, Sir.«
»Was machst du dann auf ’ner Baustelle?«
»Ich will lernen, Sir.«
Keenan fluchte. »Nicht mit mir als Kindermäd chen , verstanden? Ich muss schließlich arbeiten.« Er sah sich kurz um, dann brüllte er: »Stubbs!«
Ein anderer ziemlich junger Mann mit lockigen roten Haaren und einer unglaublichen Anzahl von Sommersprossen tauchte auf. »Mr Keenan?«
»Zeig dem Bengel da, was was ist.«
Sobald Keenan in sicherer Entfernung war, sah Stubbs Mary an. »Was sollst du denn machen?«
»Reids Muldenträger sein«, sagte Mary, ohne eine Ahnung zu haben, was sie da tun sollte. »Trägt man was mit dem Ding da?« Sie hob den Stab mit der Kiste hoch.
Stubbs lachte, ein kurzes Schnauben. »Klar. Das hält man
Weitere Kostenlose Bücher