Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
etwas?«
Und außerdem, dachte Mary, wenn ich nicht in die Bequemlichkeit der Akademie zurückkehre, fällt es mir leichter, nicht aufzugeben oder mittendrin einzuknicken. »Nein«, sagte sie.
Es folgte eine Pause, in der sich die Frauen ansahen. Nach einer Weile nickte Anne kurz. »Ich werde unser Informationsnetzwerk so organisieren, dass du mit uns Kontakt halten kannst, während du verdeckt ermittelst. Es gibt ein Pub in der Nähe von Westminster, wo du schriftliche Botschaften hinterlassen kannst, in einem Code und mit einem Passwort. Umdir Botschaften zukommen zu lassen, benutzen wir einen Ort in Lambeth selbst. Wir haben eine Kontaktstelle bei einem Bäcker im Cut, einer Straße in Lambeth.« Sie sah Mary an. »Falls du jedoch irgendwann deine Meinung ändern solltest …«
Mary war schon aufgestanden. »Danke. Das werde ich nicht.«
»Warte noch«, sagte Felicity. »Die Extra-Unterweisung, die ich versprochen habe: Komm vor dem Abendessen zu mir, dann gehen wir spazieren. Vielleicht in ein Pub.«
Mary wusste, dass sie bei dieser Aussicht eigentlich erfreut aussehen sollte, vielleicht sogar begeistert. Aber das Beste, was sie zustande brachte, war ein Nicken, dann verließ sie den Raum fluchtartig. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da fingen ihre Knie zu zittern an. Der Korridor war still und leer, daher lehnte sie sich einen Augenblick mit geschlossenen Augen an die Wand. Sie hatte es geschafft. Sie war auf die Sache angesetzt, zu ihren eigenen Bedingungen. Aber statt Genugtuung spürte sie, wie sie wieder von der bohrenden Angst gepackt wurde. Die Angst trieb sie an, aber sie konnte auch gefährlich werden. Hatte sie sich zu viel vorgenommen?
»Natürlich nicht.« Die Worte kamen aus dem Inneren des Büros, doch sie erschrak trotzdem. Es war Annes Stimme.
»Und Sie sind mit diesem Plan einverstanden?« Das war Felicity.
Zögern, dann eine leise Antwort, die Mary nicht verstand. Anne und Felicity mussten viel lauter reden als gewöhnlich, dass der Klang durch die schwere Eichentür drang. Mary stand stocksteif da. Es bekümmerte sie, was sie da hörte, auch wenn sie die Worte nicht verstand. Nie zuvor war es vorgekommen, dass Anne und Felicity stritten. Sie waren gelegentlich auf höfliche Art und mit damenhaftem Ton unterschiedlicher Meinung. Aber diese Gereiztheit war neu.
Jetzt verstand Mary, in was sie da hineingeplatzt war, und die Erkenntnis war ihr unlieb. Sie war mitten in eine Auseinandersetzung geraten – über den Fall, über die Agentur, über sie? Sie hatte keine Ahnung, und es war unter ihrer Würde, zu bleiben und zu lauschen. Als sie ihre schweren Füße in Bewegung setzte, spürte Mary, wie die Angst wich. Was keine Erleichterung war.
Denn diesmal wurde sie abgelöst von Grauen.
Vier
Montag, 4. Juli
Unterwegs zum Westminster-Palast
E s war nur ein kurzer Weg über die Themse von ihrer neuen Unterkunft in Lambeth zur Baustelle in Westminster. Bei all ihrer Nervosität am ersten Tag ihres Einsatzes zwang sich Mary, sich die Umgebung genau anzusehen. Um sie herum schlurften Männer, Frauen und Kinder langsam zur Arbeit oder vielleicht auch nach einer Nachtschicht nach Hause. Die Pubs machten gute Geschäfte mit den Arbeitern, die ihr Frühstücksbier tranken. Ab und zu wehte ein Duft – nach frischem Brot aus einer Bäckerei, nach einer Ladung Lilien auf dem Weg zum Blumenladen – durch den beißenden Gestank der Stadt. Mary wich einem Wagen aus, der hoch mit Rinderhälften beladen war, und musste grinsen beim Anblick eines Hunderudels, das dem Wagen hoffnungsvoll folgte.
Ihr Ziel, der St. Stephen’s Turm, ragte über all dem empor. Er sollte glorreich und prächtig erscheinen, aber die Wirkung wurde dadurch getrübt, dass auf zwei der Ziffernblätter die Zeiger fehlten. Beim Überqueren der Westminster-Brücke fiel Mary auf, dasssie ganz flach atmete. Wie töricht zu glauben, dass der Gestank des Flusses dadurch erträglicher würde! Dennoch verlangsamte sie ihren Schritt und sah sich den Westminster-Palast lange an. Jedes Kind wusste, dass er der Sitz des Parlaments war, mit den Sitzungssälen für Ober- und Unterhaus. Sie hatte den Gebäudekomplex nie weiter beachtet, obwohl er so ausladend und imposant war. Mit dem Wiederaufbau war schon lange vor ihrer Geburt begonnen worden und auch nach fünfundzwanzig Jahren war das Gebäude immer noch nicht fertig.
Im Hof des Palastes rührte sich nichts. Es war noch zu früh für die Gesetzgeber und zu
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