Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
richtig gewesen. Als sie eine große Kanne Tee gemacht und den Rum in eine gesonderte Kanne gegossen hatten, war es fast elf Uhr. Ein paar Münzen klimperten noch in Jenkins’ Tasche und er fischte sie zufrieden heraus.
»Vier Pence.« Ganz sorgfältig zählte er vier halbe Pennys ab und reichte sie widerwillig hinüber. »Die Hälfte, ist das klar? Du hast geschworen.«
»Ich weiß.« Das Geld bedeutete Jenkins eindeutig mehr als ihr, aber es wäre zu auffällig gewesen, es nicht anzunehmen. Sein Blick verfolgte ihre Hand, als sie es einsteckte, und sie war gespannt, ob es am Ende des Tages noch da sein würde oder ob Jenkins versuchen würde, es sich zurückzustehlen. Das glaubtesie jedoch nicht. Die Prügelei hatte alles zwischen ihnen geregelt.
»Und geh bloß nicht woanders hin als ins
Blue Bell
; andere Pubs sind teurer.«
Er klang wie eine sparsame Hausfrau, die einem Bediensteten Anweisungen gab. Mary unterdrückte ein Lächeln. »Kann Harky den Rum denn nicht riechen?«
»Keine Ahnung. Aber er hat noch nie was gesagt und ich bin schon seit Monaten bei der Teerunde.«
Es schlug keine Glocke, und doch legten die Bauarbeiter um Punkt elf ihre Werkzeuge nieder und begaben sich an den »Teetisch« – eine breite Planke über zwei Schreinerböcken.
Der Erste in der Schlange war Harkness. Mary spürte immer noch die Auswirkungen des Rums – nicht nur im Hals. Sie war überzeugt, schrecklich aufzufallen. Bestimmt waren ihre Wangen gerötet und sie roch nach Schnaps. Doch Harkness schien es nicht zu bemerken.
Nachdem der Bauleiter in sein Büro zurückgekehrt war, sammelten sich die Männer ernsthaft um den Teeausschank. Wie aus dem Nichts zogen sie dies und das zu essen hervor – Butterbrote, Scheiben von kaltem Braten oder gar eine Pastete –, zusammen mit ihren eigenen dicken, glasierten Bechern. Trotz des Unterschieds in Kleidung und Umgebung musste Mary unwillkürlich daran denken, wie sie das letzte Mal in Gesellschaft Tee ausgeschenkt hatte: neben Angelica Thorold in Chelsea. Diesmal achtete sie darauf, die riesige Teekanne etwas ungeschickt zuhalten. Das Ausschenken von Tee war Frauensache, daher versuchte sie, nicht zu geübt zu wirken, als sie dünnen schwarzen Tee bis zur Hälfte in die Becher goss. Dann füllte Jenkins sie mit Rum auf.
Da Harkness ja fort war, hätte sich die allgemeine Stimmung eigentlich heben sollen. Was war schließlich naheliegender, Klatsch zu fördern, als Essen und Alkohol und eine kurze Pause? Doch die meisten Bauarbeiter blieben stumm und ernst. Ein paar von ihnen machten sich über sie und Jenkins lustig:
Nicht zu viel von dem Tee da, Junge; weißt du nicht, dass das ein Teufelsgesöff ist?
Oder:
Komm schon, rück noch ein bisschen Rum raus; sei nicht so geizig, Kleiner.
Oder:
Ihr gebt ein hübsches Paar ab, du mit deinem blauen Auge und er mit seiner blutigen Nase.
Aber sobald sie ihren Tee hatten, gruppierten sie sich ihrem Handwerk nach zusammen; Glaser zu Glasern, Steinmetze zu Steinmetzen. Und sie tranken ihren unerlaubten Rum ohne allzu großes Vergnügen.
»Keiner sagt was«, murmelte Jenkins.
Sie hatte sich die angespannte Stimmung also nicht eingebildet. »Warum?«
»Mann, du weißt ja wirklich rein gar nichts.«
»Dann sag du’s mir, wenn du so schlau bist.«
Jenkins sah sich verstohlen um. Sie hatten inzwischen alle Arbeiter bedient und waren mehr oder weniger für sich. Trotzdem sprach er kaum lauter als mit einem Flüstern. »Einer von den Maurern, Typ namens Wick, hat sich kürzlich nachts umgebracht. Seine Leiche hat genau da drüben gelegen.«
Mary tat geschockt. »Er hat Selbstmord begangen?«
»Genau«, zischte Jenkins. »Ist vom Turm gesprungen.«
»Woher weißt du das?«
Jenkins sah sich erneut um. »Is doch klar. Er war in der Nacht da oben und die Polizei tut nichts. Wenn er geschubst worden wäre, dann würde der Yard –«, er sprach den Spitznamen betont lässig aus, »der Yard würde dann doch jemand schnappen.«
»Vielleicht suchen sie ja noch.«
Jenkins schnaubte verächtlich. »Scotland Yard doch nicht. Wenn sie keinen gefunden haben, dann gibt’s auch keinen.«
Mary sah ihn nachdenklich an. Sie hatte den Jungen zuerst für etwas beschränkt gehalten: Warum sollte er wohl sonst eine Schlägerei provozieren, die er nicht gewinnen konnte? Doch jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Er war klug genug, aus der Teerunde einen einträglichen Gewinn zu ziehen. Er hatte eine nachvollziehbare Theorie in Bezug auf
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