Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
richtete sich auf, betrat mit festen und gleichmäßigen Schritten die Baustellen und klopfte zweimal an den Türrahmen des klapprigen Schuppens mit dem Büro.
»James Easton! Mein lieber Junge!« Philip Harkness sprang vom Stuhl auf und schüttelte ihm begeistert die Hand. »Wie ungeheuer erfreulich, Sie wieder mal zu sehen. Wie lange ist es jetzt her?« Er sprach sehr laut, wie es Leute bisweilen mit älteren Menschen taten.
James wusste, dass er sich ziemlich verändert hatte, seit er Harkness zuletzt gesehen hatte, aber der mitleidige Blick des Mannes war doch ziemlich niederschmetternd. »Hallo, Harkness. Tja, ein bisschen mehr als zwei Jahre.«
»Richtig, richtig – wenn ich mich recht erinnere, waren Sie doch bis vor Kurzem mit einem Projekt in Fernost beschäftigt!«
So ein heuchlerisches Gerede! Der Mann wusste nur zu gut, weswegen er nach Indien gefahren und warum er nach England zurückgekehrt war. Das war wahrscheinlich der Grund, warum ihn Harkness aufgefordert hatte, mal vorbeizukommen; alle wollten seine Geschichte aus erster Hand hören. »Ich war ein knappes Jahr dort.«
»Dann haben Sie wohl genug gehabt, was?«
Darauf ging er nicht ein. »Ich habe meine Aufgabe dort erledigt.«
»Habe von dem Malaria-Fieber gehört. So ein Pech, alter Knabe – diese gemeine sumpfige Luft dort, war es das?«
»Ich weiß nicht so genau. Aber es geht mir wieder ganz gut – genauer gesagt, ich bin wieder voll hergestellt.« Er schwieg kurz. »Sie sehen ganz so aus, äh, wie das blühende Leben.« Seit James ihn zuletzt gesehen hatte, war Harkness kahl geworden und richtig dick. Nicht wie ein rosiger, gut genährter Landedelmann, sondern eher teigig aufgedunsen. Seine Wangen waren aufgeblasen und ein Doppelkinn hing über seinem gestärkten Kragen. Sein Teint war so grau wie der Himmel über London. Stress, vermutete James, von dieser verfluchten Arbeit. Das gelegentliche Zucken unter dem Auge mochte die gleiche Ursache haben.
Harkness lachte übertrieben herzlich und schob ihm den einzigen Stuhl hin. »Setzen Sie sich doch, mein Guter. Sie sehen ein bisschen blass aus, falls ich das anmerken darf.«
Er durfte nicht. »Mir geht’s gut, danke. Ich lehne mich an den Schreibtisch.« Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, den alten Freund seines Vaters aufzusuchen. In früheren Jahren war Philip Harkness regelmäßig im Haus der Eastons zu Besuch gewesen. Aber seit dem Tod ihres Vaters hatten James und George den Kontakt zu ihm etwas verloren. Heute kam ihm Harkness vor, als ob er sich unbehaglichfühlte; er war ganz anders als der freundliche, kompetente Mann, an den sich James aus seiner Kindheit erinnerte.
»Und wie geht es Ihrem lieben Bruder?«
Tastend steuerten sie durch die fehlenden Jahre: James’ Ausbildung und Lehre, vergangene Bauprojekte, Georges Interessen, das Privatleben der Brüder. James wollte Harkness gerne zu der Baustelle befragen. Wieso hatte er die Aufgabe übernommen? Was für Herausforderungen brachte sie mit sich? Und ganz besonders spannend: Warum zum Teufel war man fünfundzwanzig Jahre im Rückstand? Sobald er die Unterhaltung diesen Fragen zuwandte, schien sich die Anspannung von Harkness zu verdoppeln. Er stotterte, wich Antworten aus und fummelte an seinem eleganten, neumodischen Füllfederhalter herum, bis seine Finger voller Tinte waren. Je mehr James nachbohrte, desto mehr wich Harkness aus, bis James ihn schließlich aus Mitleid in Ruhe ließ. Offensichtlich hing Harkness’ nervöser Zustand direkt mit dem Unglück auf der Baustelle in Zusammenhang.
James sah auf seine Uhr. Er war nicht mehr als eine Viertelstunde bei Harkness gewesen, aber es kam ihm viel länger vor. »Dann will ich Sie lieber nicht länger von der Arbeit abhalten«, murmelte er und machte einen Schritt auf die Tür zu.
Harkness sprang eifrig auf und streckte die Hand abwehrend aus. »So eilig? Ach, ich hatte gehofft, Sie zum Lunch auszuführen. In meinen Club, wissen Sie.Die bereiten dort einen ganz anständigen Braten zu und der Weinkeller ist auch nicht schlecht.«
James’ Züge erstarrten. So freundlich die Einladung auch war, er konnte sich nichts vorstellen, worauf er weniger Lust hatte. »Äh – tja, Sie haben doch sicher unglaublich viel zu tun. Eine Baustelle wie diese …«
Wieder so ein gezwungenes Lachen. »Genau darüber möchte ich ja mit Ihnen reden, mein lieber junger Mann. Über eine Baustelle wie diese!«
Wenn die Baustelle so viel Arbeit bedeutete, wie
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