Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
Tee-Junge. Aha. Wie viel wollten sie? Mann, das sei ja richtige Wegelagerei … Und alle kramten sie in ihren Taschen, zogen ein paar Münzen heraus und warfen sie Jenkins mit unwirscher Vorfreude zu.
Jenkins und Mary gingen das gesamte Baugelände ab, und Mary stellte begeistert fest, was für eine überaus perfekte Aufgabe das für sie war. Auf diese Weise lernte sie fast jeden Handwerker und Bauarbeiter hier kennen und hatte einen Grund, sie regelmäßig aufzusuchen und ein kurzes Schwätzchen mit ihnen zu halten. Das war fast wie ein Wunder – als ob Harkness von ihrem wahren Auftrag wüsste.
»Kriegst du von allen was?«, fragte sie Jenkins. »Abgesehen von Mr Harkness?«
Jenkins sah sie an, als sei sie nicht ganz bei Trost. »Na klar! Wer würde da nicht mitmachen?«
Nachdem sie alle Arbeiter des Baugeländes aufgesucht hatten, hatte Jenkins die Tasche voller Münzen, die fröhlich klimperten, als er und Mary sich auf den Weg zu einem Pub machten. Das
Blue Bell
hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Frische und dem Liebreiz einer Glockenblume. Es war muffig und dunkel,und der Mief von unzähligen schnapsseligen Abenden lag in der Luft. Es war zudem ziemlich voll, und Mary hatte den starken Verdacht, dass die meisten Gäste seit dem vergangenen Abend hier waren.
Jenkins stolzierte zum Tresen, eine Hand in der Tasche, und stützte sich wichtigtuerisch auf. Der Tresen ging ihm bis an die Schulter, was den Effekt etwas minderte.
»Spät dran heute, Master Jenkins«, sagte der Wirt. Er war fett und verschwitzt.
Jenkins zuckte übertrieben die Schultern. »Hab jetzt ’n Partner. Mich werden Sie demnächst nicht mehr sehen, Mr Lamb.« Seine Stimme war immer noch dünn und hoch, und in diesem höhlenartigen Pub klang sie besonders schrill.
Mr Lamb sah Mary ohne großes Interesse an. »Das Übliche?«
Mary warf Jenkins einen Blick zu. »Was ist das Übliche?«
»Halber Liter Rum«, sagte Jenkins bestimmt. »Werktags Rum, samstags Whisky.«
Während Mr Lamb unter Jenkins’ Aufsicht eine schmutzige Flasche füllte, sah sich Mary im Gastraum um. Die rohen Holzdielen klebten unter ihren Stiefeln. Verstohlene Bewegungen in den Ecken des Raumes ließen Ratten vermuten. An einer Wand war ein kleines Fenster. Es war so schmutzig, dass sie es zuerst für ein dunkles Bild gehalten hatte. Auf den klapprigen Bänken und Stühlen lungerten verschiedene Gruppen von Männern und Frauen im letztenStadium der Trunkenheit. Keiner von ihnen war angeheitert; diese Phase lag wohl schon Stunden zurück. Stattdessen starrten sie Mary und Jenkins – oder einfach die Luft – mit glasigem Blick aus blutunterlaufenen Augen an. Nur die Hände, mit denen sie ihre Gläser hielten, bewegten sich mit monotoner Regelmäßigkeit zum Mund.
»Prost denn«, sagte Jenkins und stieß Mary in die Rippen.
Zwei kleine Becher mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit standen auf dem Tresen und Jenkins hatte bereits die Hand um einen geschlossen. Mit scharfem Blick sah er sie an, und Mary begriff, dass er sie auf die Probe stellte: Sie musste beweisen, dass sie wirklich nicht der abstinente Liebling von Harkness war.
Sie nahm den anderen Becher. »Prost.« Als ihr die ersten Tropfen des unverdünnten Schnapses durch die Kehle rannen, merkte sie, dass sie nie hätte versuchen dürfen, alles auf einmal hinunterzukippen. Ihr Hals zog sich zusammen. Ihr Magen revoltierte. Ihre Augen tränten. Sie schluckte dennoch, und während ihr die Flüssigkeit brennend durch den Schlund lief, bekam sie einen solchen Hustenanfall, dass sie in dem düsteren Kneipenraum grelle Blitze vor Augen zu sehen begann.
In der Akademie tranken die Damen zum Abendessen Wein und Mary hatte manchmal schon Bowle oder sehr verdünnte alkoholische Sachen getrunken. Reiner Schnaps war ihr jedoch noch nie untergekommen. Und Jenkins hatte seine Aufgabe gut gemachtund Mr Lamb scharf beobachtet, damit dieser den Rum nicht verdünnte, was er bei unachtsamen Kunden oft tat. Als Mary wieder gerade stehen konnte, sah sie wie durch einen Schleier, wie Jenkins und Mr Lamb sie angrinsten. Sie wischte sich die Augen, fuhr sich über die feuchte Stirn und versuchte, nicht nach Luft zu schnappen.
»Der stärkste Rum in London«, verkündete Jenkins stolz.
Sie räusperte sich. »Nicht schlecht.« Ihre Stimme war rau – aber für ihre Rolle als »Mark« war das ja eher gut.
»Ha, jetzt bist du auf jeden Fall kein Abstinenzler mehr.«
***
Jenkins’ Zeitplanung war genau
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