Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
gewinnen, uns ein Exklusivinterview zu geben, Sir? Nein? Wie schade. Nun, ich muss los. Hören Sie, Sie müssen dem kleinen Quinn nicht vorwerfen, mit mir geredet zu haben – ich habe ihm aufgelauert, nicht andersrum. Gut, gut, auf Wiedersehen!«
Die plötzliche Stille, die entstand, als Jones davoneilte, war ausschließlich in Marys Kopf. Die Straßeselbst war so laut wie immer, aber Mary bemerkte nur, dass James ganz untypisch und fast bedrohlich schwieg. Sie erinnerte sich sehr gut an das, was er gestern gesagt hatte: Wenn er sie noch mal dabei erwischte, wie sie mit Octavius Jones redete, würde ihr eine Strafe drohen. Da hatte er natürlich noch nicht zugegeben, dass er sie erkannt hatte. Aber sie bezweifelte, dass das einen Unterschied machte.
James marschierte ohne einen Blick über die Schulter in den Eingang des Turmes. Mary folgte ihm kleinlaut. Sie hatte ja auch keine andere Wahl. Sobald sie allein waren, platzte sie heraus: »Ich kann das erklären.«
Er schien sie gar nicht zu hören. Stattdessen starrte er unbeirrt auf einen Fleck über ihrem Kopf und verlangte mit leiser, knapper Stimme: »Sagen Sie mir zum Teufel, wer Sie wirklich sind.«
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, dann unterbrach sie sich. Es war eine ausgezeichnete Frage – und darauf wusste sie jetzt wirklich keine Antwort. Natürlich war sie Mary Quinn. Aber auch Mary Lang. Geheimagentin. Waisenkind. Vormalig Taschendiebin. Engländerin. Mischling. Und sie war in keiner Weise die, als die er sie kennengelernt hatte. Er hatte wirklich das Recht, vor Wut zu kochen.
»Nicht mal das können Sie mir sagen?« Seine Stimme war verbittert. »Sagen Sie mir wenigstens eines: Gibt es wirklich einen Mr Fordham?«
Sie zuckte verblüfft mit den Mundwinkeln. »Nein. Natürlich nicht.«
Die Spannung in seinem Kiefer ließ etwas nach. »Und Jones – der ist tatsächlich Reporter?«
»So in der Art; er schreibt für
The Eye on London.
« Das hatte sie allerdings nicht erwartet. Die Fragen, die James stellte, waren normalerweise präzise und vernünftig. Diese Fragen waren unsinnig, es sei denn, er war tatsächlich eifersüchtig … und das war ja wohl eher eine lächerliche Halluzination ihrerseits.
»Sind Sie mir gestern Abend gefolgt?«, fragte er.
Das verschaffte ihr zumindest sicheren Boden. »Wie das denn? Ich war doch zuerst im Haus der Wicks.«
»Sie hätten ahnen können, wohin ich wollte.«
»Umgekehrt hätten Sie aber auch mir folgen können.« Diese Möglichkeit hatte ihr in der Nacht den Schlaf geraubt.
»Wenn man davon ausgeht, dass ich wusste, wer Sie sind.« Seine Worte klangen verbittert, sein Ton war jedoch weniger scharf. Er sah sie jetzt an, seine dunklen Augen versuchten, ihre Gedanken zu lesen. »Was zum Teufel machen Sie in Jungenkleidern auf einer Baustelle, Mary? Falls Sie wirklich so heißen.«
»Natürlich heiße ich so.« Das war der einzige Teil ihrer Identität, den sie ihm ehrlich preisgeben konnte.
»Na, das ist ja wenigstens ein Anfang.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Möchten Sie wirklich wissen, warum ich hier bin?«
Er machte eine seltsam hilflose Geste. »Wer würde das nicht wollen? Verstehen Sie nicht, dass ich mir wie ein Esel vorkomme? Sie haben mir letztes Jahrdas Leben gerettet, Sie haben mich aus dem verdammten Laskarenheim gezogen. Aber Sie trauen mir nicht mal so weit, dass Sie mir sagen können, was Sie hier machen.«
Sie hatte nicht mit seinen Gefühlen gerechnet – nicht mit solchen. Dabei hatte er ja recht. Sie konnte ihm zumindest eine nachvollziehbare, vernünftige Erklärung für ihre Anwesenheit auf der Baustelle anbieten. Sie war zwar weit von der Wahrheit entfernt, aber vielleicht stellte es ihn für eine Weile zufrieden, auch wenn sie sich dabei kläglich fühlte. Herumzuspionieren war schön und gut. Sie liebte es, sich zu verkleiden und in eine Rolle zu schlüpfen und all die geheimen Fertigkeiten anzuwenden, die sie erlernt hatte. Dieses falsche Spiel war ihr jedoch zuwider: jemanden anzulügen, den sie –
Mary beendete ihren Gedankengang. Sie konnte sich nicht leisten, ihn weiterzudenken. Und James wartete schließlich noch auf eine Erklärung. »Ich – ich mache Studien für ein Buch.« Die Worte klangen albern, kaum dass sie ihren Mund verließen, aber jetzt konnte sie wohl kaum mehr zurück. »Ermittlungen, könnte man wohl sagen.« Sie machte ein Pause und wartete auf seine Erwiderung, ohne ihn anzusehen. Als er nichts sagte, stotterte
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