Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
Ma’am, und ich muss mein Trauerkleid noch fertig machen … Ich war so beschäftigt, dass ich das Oberteil noch nicht an den Rock genäht habe.«
»Wer passt auf die Kinder auf?«
Sie wurden von einem dreimaligen lauten Klopfen an der Tür unterbrochen.
Mrs Wick machte sofort wieder ein besorgtes Gesicht. »So viel Besuch hab ich sonst nie bekommen«, sagte sie entschuldigend. »Johnny, sei ein lieber Junge und schau mal nach.«
Kauend stand Johnny vom Tisch auf, ein Butterbrot in der Hand. Die Türangeln waren ziemlich eingerostet, und er musste mit seinem ganzen Gewicht ziehen, um zu öffnen. Bei dem Anblick, der sich ihm dann bot, stieß er einen kleinen Schrei aus, ließ denTürknopf los und fiel mit einem Plumps auf seinen Hintern. Sein Butterbrot fiel ebenfalls hin, aber er machte keine Anstalten, es aufzuheben.
»Guten Abend, junger Mann«, sagte eine leise männliche Stimme. »Ist deine Mutter zu Hause?«
Zum zweiten Mal an diesem Abend erstarrte Mary vor Panik und Bestürzung. Aber diesmal war es viel schlimmer. Diesmal konnte sie nicht hoffen, unerkannt zu bleiben.
Der Mann war nämlich James Easton.
***
Er hatte nicht erwartet, einen so erschreckenden Anblick zu bieten. Wenn er nach der Reaktion des kleinen Jungen ging, dann war er der Teufel persönlich. Es war natürlich ziemlich spät für einen Besuch, aber daran konnte er nichts ändern. Er musste sich ein Bild von dem Toten machen. War Wick der Typ, der sich über Sicherheitsmaßnahmen hinwegsetzte? Oder war er ein bedächtiger, vorsichtiger Typ und sein Sturz nicht anders zu erklären als durch Gewalt? Ein Teil der Antwort war hier, in seinem Zuhause, zu finden.
»Nun, Junge?« Als das Kind ihn weiter nur anstarrte, blickte James an ihm vorbei ins Haus. Und was er sah, ließ auch ihn staunen.
Die zwei Frauen standen mitten im Raum. Eine war bleich und ausgemergelt – eindeutig die Witwe Wick, umgeben von ihrer zahlreichen Nachkommenschaft. Die andere ließ seinen Puls schneller schlagen.Das Blut stieg ihm in den Kopf und seine Hände wurden ganz schlaff.
Mary trat mit einem nicht zu deutenden Blick auf ihn zu. »Mr Easton«, sagte sie mit hoher, affektierter Stimme. »Wie überaus freundlich von Ihnen, der Familie Wick ebenfalls einen Besuch abzustatten. Sie können sich bestimmt an mich erinnern: Mrs Anthony Fordham von der St. Andrew’s Kirche.«
Er starrte sie eine Weile an, dann schluckte er. »Mrs Fordham.« Seine Stimme war brüchig, aber schließlich sprach er weiter. »Was für eine unerwartete Überraschung.« Mit einiger Verspätung gelang ihm eine unbeholfene Verbeugung.
»Völlig unerwartet«, stimmte sie ihm mit Nachdruck zu. Die lange, blau gefärbte Feder an ihrem Hut wippte mit jeder ihrer Bewegungen. »Ich habe mich gerade mit Mrs Wick unterhalten – von Frau zu Frau, wissen Sie –, aber ich will sie nun nicht länger aufhalten. Ich bin sicher, Sie haben etwas Geschäftliches mit ihr zu besprechen.«
»Geschäftliches keineswegs«, widersprach er. Er war nicht sicher, ob ihm diese Sache gefiel. Und die Stimme, die sie als Mrs Fordham benutzte, gefiel ihm noch weniger. Aber sie achtete nicht weiter auf ihn. Stattdessen wandte sie sich wieder der jungen Witwe zu und murmelte ein paar rasche Worte. Mrs Wick nickte, offensichtlich ziemlich verblüfft. Von dem, was Mary gesagt hatte? Vom Leben im Allgemeinen? Dann knickste sie mehrmals und nickte dabei die ganze Zeit.
Das Wohnzimmer war schmal. Auf ihrem Weg hinaus musste sich Mary so an James vorbeidrängen, dass ihr weiter Rock sein Hosenbein streifte und er den Duft von Zitronenseife wahrnahm. Er schnupperte mehrmals verstohlen.
Mary verneigte sich noch einmal. In ihren haselnussbraunen Augen lag der Hauch eines übermütigen Funkelns. »Guten Abend, Sir.«
»Erlauben Sie mir, Sie zu ihrer Kutsche zu bringen.«
Sie sah ihn mit leichter Besorgnis an. »Wie liebenswürdig von Ihnen, aber das ist nicht nötig.«
Besorgnis. Damit wurde er fertig. Es gefiel ihm sogar. »Ich bestehe darauf.« Er wandte sich Mrs Wick zu, die ganz verwirrt war. »Wenn Sie so freundlich wären, zwei Minuten zu warten …« James drehte sich wieder zu Mary um und bot ihr seinen Arm. Sein Blick untersagte ihr, davonzulaufen.
Sie sah aus, als würde sie lieber mit dem Teufel persönlich gehen, doch dann legte sie die äußersten Fingerspitzen auf seinen Ärmel. Er legte die linke Hand fest darüber und sie blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. Aber sie sagte nichts.
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