Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
sie weiter: »Es geht um die arme Arbeiterschaft in London. Ob es möglich ist, mit einem Arbeiterlohn über die Runden zu kommen, und um den Alltag eines Lehrjungen. Eigentlich darüber, wie so jemand lebt. Deshalb bin ich hier, als Mark Quinn, und darum war ich auch imHaus von Wick und habe als reiche, mildtätige Dame herumspioniert.«
James sah sie erstaunt an, während er zuhörte, aber im Gegensatz zu vielen anderen hörte er immer schweigend zu. Als sie endete – sie konnte es nicht ertragen, die Lügen noch weiter auszuschmücken –, pfiff er leise durch die Zähne. »Langweilig geht’s bei Ihnen wohl nie zu, was?«
Sie lächelte schief. »Das ist ein ziemliches Kompliment von einem Mann, der gerade aus Indien zurück ist, die Malaria überlebt hat und für das Sicherheitsgutachten eingestellt worden ist.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber ich bin doch nur ein langweiliger Experte. Was Sie da machen, ist wirklich radikal! Vor allem für eine Frau.«
Sie wand sich. Sie kam sich ja schon ohne seine Begeisterung und Bewunderung verlogen genug vor … Und was würde sie tun, wenn er die Ergebnisse ihrer Arbeit irgendwann lesen wollte? Doch mit Bedauern fiel ihr ein, dass sie dann ja nicht mehr mit ihm in Kontakt stünde. Es war ja nur eine Tarnung, um den Auftrag zu verheimlichen. Sobald das alles vorbei war, musste sie darauf achten, James nicht mehr zu begegnen, wenn sie ihrer Tätigkeit als Geheimagentin weiter nachgehen wollte. »Ich bin noch nicht sicher, ob was dabei rauskommt …«, wandte sie zögernd ein.
»Ich hab mir auch schon oft über diese Lehrjungen Gedanken gemacht. Wie werden Sie von den anderenbehandelt?« Ein neuer Gedanke schoss ihm durch den Kopf und er runzelte die Stirn. »Sie geraten doch sicher oft in Situationen, die für eine Dame gefährlich sind.«
»Ach …« Trotz ihrer festen Vorsätze merkte Mary, wie seine Fürsorge ihr gefiel. »Damit komme ich klar.«
»Da bin ich mir sicher.« Langsam und sorgfältig musterte er sie von oben bis unten, und sie spürte, wie von den Zehen her eine kribbelnde Wärme in ihr aufstieg. Es war ja in Ordnung, in Hosen rumzulaufen, wenn man von allen für einen Jungen gehalten wurde, doch in dieser Situation kam sie sich völlig unpassend gekleidet vor. »Hosen stehen Ihnen«, murmelte er.
»Sollten …« Sie räusperte sich. »Sollten wir nicht lieber mit der Arbeit anfangen?«
Er grinste. »Die richtige Erwiderung auf ein Kompliment lautet ›Danke‹. Sie haben doch noch nicht Ihre guten Manieren vergessen, oder?«
»Es war aber auch kein Kompliment, das man einer Dame macht.«
»Entschuldigung. Ich glaube, Handbücher über Etikette erstrecken sich nicht auf Situationen wie diese.« Er beugte sich zu ihr, sodass seine Lippen fast ihren Hals streiften, und atmete ein. »Mhmm. Sie riechen auch noch gut.«
Sie verschluckte sich fast. Machte einen Schritt zurück, bis ihr Rücken kalten Stein berührte. »D-danke.«
»Schon besser. Darf ich Sie küssen?« Er fuhr ihr mitdem Finger in den Hemdkragen und strich ihr über den Nacken.
»Ich h-halte das f-für k-keine gute Idee.«
»Warum nicht? Wir sind doch allein.« Seine Hände umfassten ihre Taille und auf einmal bekam sie fast keine Luft mehr.
»Und wenn jemand reinkommt?«
Er überlegte einen Moment. »Na ja, der meint dann wohl, dass ich auf kleine dreckige Jungs stehe.«
Darüber musste sie lachen, und dieser plötzliche Stimmungswandel verlieh ihr die Kraft, ihn etwas von sich zu schieben. »Ich habe noch eine Frage: Wann haben Sie mich erkannt?«
Er ließ sie sichtlich ungern los. »Sofort natürlich.«
»Aber Sie haben kein Wort gesagt! Warum nicht?«
Er grinste ein wenig verlegen. »Ich wollte mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.«
»Sie hätten den Bericht also vielleicht abgeschlossen und wären wieder verschwunden, ohne ein Wort zu sagen?«
»Wären Sie denn dann enttäuscht gewesen?«
»Antworten Sie erst mal auf meine Frage.«
»Natürlich nicht. Ich habe nur auf den richtigen Moment gewartet. Und Sie?«
»Oh, ich wäre sehr enttäuscht gewesen von Ihrer Intelligenz.«
»Mehr nicht?« Er lachte.
Sie lächelte zurück. »Wer weiß.«
»Noch weitere Fragen?«
»Ja. Arbeiten wir heute überhaupt?«
»Sind Sie seit unserer letzten Begegnung zu einer Langweilerin geworden?«
»Ja«, sagte sie geziert.
Sein charmantes Grinsen blitzte wieder auf – das hatte ihm die Krankheit also nicht genommen –, doch dann wurde
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