Eine Feder aus Stein
Lied rief eine Macht an und verband mich mit der Energie in allen Dingen: mit der eines Baumes, eines Felsens, mit der der Luft. Die Augen geschlossen, malte ich die Zeichen in die Luft, die in dem Zauberbuch beschrieben wurden. Der Zauber war insofern ungewöhnlich, als er nicht näher erläuterte, wessen Kräfte er auf einen übertrug. Ich nahm an, es würden die von Insekten sein, vielleicht auch von Eidechsen oder Fröschen.
Entsprechend schockiert war ich, als ich die Augen öffnete und sieben Katzen aus der Nachbarschaft sowie Q-Tip geduldig wartend vor mir sitzen sah. Katzen waren Säugetiere – im Vergleich zu Insekten höhere, sehr komplexe Lebewesen. Sie umringten mich und schauten mich auch dann noch an, wenn sie sich die Pfote leckten oder einem vom Wind aufgewirbelten Blatt nachsetzten.
»Katzen«, murmelte ich erstaunt. Das hier war wirklich mächtige Magie. Q-Tip sah mich an und fragte sich wohl, was ich von ihnen wollte. Normalerweise würde er fremde Katzen aus dem Garten verjagen, also hatte ich keinen Zweifel, dass er unter meinem Zauber stand.
Der nächste Teil des Zaubers sollte mir Zugang zu den Kräften der Geschöpfe verschaffen. Ich hatte Angst – denn ich wusste nicht, was passieren würde, und befürchtete, dass mir nach diesem einen Zauber, diesem einen Schritt, für immer eine böse Färbung anhaften könnte. Als würde er mir jede Hoffnung auf das Gute in mir nehmen. Nicht so ein moralapostelmäßiges Gutes, wovon ich ehrlich gesagt noch nie viel besessen hatte, sondern das Gute im Sinne von … Abwesenheit des Bösen.
Doch es stand so viel auf dem Spiel. Mein Leben. Das Leben meiner Schwester. Was wäre wohl besser, für immer den Makel des Dunklen zu tragen, dabei aber seinen freien Willen zu behalten, oder gut zu sein und von jemand anderem beherrscht zu werden?
Wieder schloss ich die Augen und sprach leise die Worte aus, die mir Zugang zur Kraft der Katzen geben würden. Es war keine allmähliche, langsame, sanfte Verflechtung unserer Seelen, nein, es war abrupt, erschreckend. Innerhalb von Sekunden spürte ich ihre katzenhafte Lebenskraft um mich versammelt, hellwache Wächter in der Dunkelheit. Sie waren mir fremd, von völlig abweichendem Wesen und anders als alles, was ich, selbst während des verrücktesten Zirkels, je empfunden hatte. Jede Katze war unverkennbar ein Individuum. Ihre Energien waren klar und eindrücklich, winzige Klumpen einer knisternden Kraft, klein, wild, primitiv. Sogar Q-Tip, mein Baby, das so gezähmt war wie es nur ging, fühlte sich animalisch an. Es war vollkommen irre.
Aufgewühlt ging ich zu Schritt drei über: ihre Energien mit meiner zu verbinden. Ich sang den dritten Teil des Zaubers und überprüfte den Wortlaut noch einmal in dem Buch, das offen vor mir lag. Ich sang die Worte, die meine Seele aus mir herausgleiten und die ihren umschwirren ließ, eine nach der anderen, als wäre ich ein Strom und sie einzelne Trümmer, die ich flussabwärts mit mir forttrug. Ruhig saß ich da und spürte die Vereinigung unserer Kräfte. Ich begann, sie mir einzuverleiben – ich begann, wie eine Katze zu fühlen.
Ich schlug die Augen auf. Die sieben Katzen saßen bewegungslos da, mit leerem Blick ins Nichts starrend, ganz und gar in meinem Bann. Ich hatte ihnen ihre Stärke genommen, ihre Kraft, und deshalb waren sie nun herabgewürdigt und ausgehöhlt. Ich schämte mich, dass ich ihnen das angetan hatte, doch zugleich überkam mich ein unbeschreibliches Hochgefühl: Ich war Super-Clio, war mehr als ich vorher gewesen war, mehr als ich je gewesen war. Ich hatte das Gefühl, vor Leben und Kraft platzen zu müssen, und eine dunkle, schreckliche Freude stieg in mir auf. Ich erhob mich, streckte die Arme aus und versuchte, diese Gewaltigkeit, diese aufbrandende Stärke zu umfassen.
Und dann sprang ich. Die starke, katzenhafte Kraft in mir bestand darauf, sich zu zeigen. Ohne weiter darüber nachzudenken, spannte ich die Muskeln an. Ich ging in die Hocke und sprang leichtfüßig auf unsere zwei Meter hohe Backsteinmauer. Direkt oben drauf. Ich landete auf den Zehen, ruderte mit den Armen, fühlte mich jedoch fest und sicher auf der Mauerkrone verankert. Ich konnte alles tun.
Ich fühlte mich herrlich, lachte laut auf und hob mein Gesicht zum Himmel. Ich sah anders, hörte anders und schmeckte die Luft sehr viel intensiver. Jeder noch so schwache Duft war eindeutig, klar und voll entfaltet. Die letzten blühenden Jasminsträucher, die süßen Oliven, die
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