Eine Feder aus Stein
Thais, während wir uns die Zähne putzten und sie mit ihrer Zahnbürste vor meiner Nase herumfuchtelte. Schaum stand ihr vor dem Mund wie bei einem tollwütigen Hund. »Also erstens glaube ich, Marcel ist der Typ, der in dem Sumpf auf die Frau runtergeschaut hat. Du weißt schon, als es so aussah, als hätte er sie getötet. In unserer Vision.«
Ich brauchte einen Augenblick, um mit ihren Gedanken Schritt zu halten. Doch es setzte sich alles zu einem stimmigen Bild zusammen und schließlich nickte ich. »Du hast absolut recht. Ich wusste doch, dass er mir irgendwie bekannt vorkommt! Ich konnte mir nur nicht erklären, weshalb, aber das ist es!«
»Außerdem«, fuhr Thais fort, »glaube ich, die Frau war Melita. Und egal wie verrückt diese Melita-Tussi gewesen sein mag, findest du wirklich, dass Marcel so aussieht, als sei er fähig, jemanden umzubringen? Was also, wenn Melita gar nicht tot ist, wie es in unserer Vision den Anschein hatte und wie alle anderen zu glauben scheinen? Was, wenn es nur ausgesehen hat, als sei sie tot? Stell dir vor, sie lebt noch und irgendjemand weiß davon. Dann ist dieser Jemand vielleicht derjenige, der versucht, eine von uns um die Ecke zu bringen.« Thais sah mich erwartungsvoll an, die Zahnbürste wie einen Zauberstab von sich gestreckt.
Ich dachte darüber nach. Alles leuchtete mir ein. Die Frau, die den Ritus geleitet hatte, war dieselbe wie die aus dem Sumpf. Und es stimmte auch, dass sämtliche Attacken nur gegen eine von uns gerichtet gewesen waren, außer der mit den Wespen. Aber vielleicht hatte auch das eigentlich Thais gegolten und ich war nur durch Zufall in die Sache verwickelt worden. Ich nickte langsam.
»Vielleicht. Aber weißt du, wenn Melita schon frei da draußen rumläuft, wäre es dann nicht logischer, wenn sie selbst der Übeltäter wäre?« Thais und ich starrten uns über das Waschbecken hinweg an. »So als wäre sie aus irgendeinem Grund zurück«, fuhr ich fort. »Weil sie weiß, dass Daedalus drauf und dran ist, den Ritus zu vollziehen, und sie ihn selbst leiten will. Also versucht sie, eine von uns zu erledigen.«
Für einen kurzen Moment erschien uns das plausibel. Doch dann schüttelten wir beide gleichzeitig den Kopf.
»Na ja, das ist wohl doch zu weit hergeholt, sogar angesichts dieser komplett verkorksten Situation«, gab ich zu. »Erst mal müsste ja unsere Annahme stimmen, dass sie noch lebt, wo doch alle anderen offenbar glauben, dass sie als Einzige nach dem Ritus gestorben ist – abgesehen von Cerise natürlich. Sie müsste also noch leben und mal eben die letzten 250 Jahre von der Bildfläche verschwunden sein.«
»Außerdem«, unterbrach mich Thais, »hätte sie genau zur selben Zeit wieder auftauchen müssen, als ich hierhergekommen bin. Sie hätte dann herausfinden müssen, dass Daedalus den Ritus erneut vollziehen will, und schließlich hätte sie beschließen müssen, uns umzubringen, um sich selbst einen Platz zu sichern. Ich meine, wenn sie unbedingt Teil des Ritus sein wollte, warum ist sie dann nicht schon viel früher wieder aufgetaucht?«
»Ja«, stimmte ich zu. »Ich meine, es könnte sein … aber es klingt doch ziemlich verrückt. Viel zu unwahrscheinlich.«
Thais kniff die Augen zusammen und sagte: »Aber wir müssen dahinterkommen.«
»Das werden wir bald«, versprach ich.
In meinem Zimmer lag ich wach im Bett und betrachtete die Schatten, die über meine Wände huschten und immer neue Formen annahmen. Gedanken schossen mir durch den Kopf wie die Kugel in einem Flipperautomaten. Als ich Ouida und Marcel gehen hörte und spürte, wie Nan und Thais langsam in den Schlaf fielen, war ich so müde und gleichzeitig so überdreht, dass es mich nur so kribbelte.
Schließlich hielt ich es nicht länger aus. Noch immer im Bett, formulierte ich einen Zauber, den ich aussandte, durchs Haus zu wabern wie schwerer Blütenduft. Er würde Thais und Nan einlullen wie eine wohlige Decke, sie noch tiefer in den Schlaf sinken lassen, ihnen beschwichtigende Träume schicken und jedwedes Bedürfnis, aufzustehen und sich ein Glas Wasser oder irgendetwas anderes zu holen, zum Schweigen bringen. Ein wunderbarer, harmloser Zauber, den ich in einem von Nans alten Büchern gefunden hatte.
Natürlich würden mich Nan und Thais umbringen, wenn sie mir je auf die Schliche kämen. Jemanden ohne seine Erlaubnis mit einem Zauber zu belegen, war eines der größten Tabus unserer Religion. Würde das jemand mit mir machen, ich würde ihn in Stücke
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