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Eine Feder aus Stein

Eine Feder aus Stein

Titel: Eine Feder aus Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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reißen. Und doch lag ich nun hier und tat genau das.
    Ich schlich mich an Nans Tür vorbei nach unten. Im Arbeitszimmer suchte ich ein paar Hilfsmittel zusammen und lief dann durch die Hintertür nach draußen, in die Dunkelheit des Gartens. Es roch nach Asche. Ich fragte mich, wie lange noch.
    Ich lief zur dunkelsten Stelle nahe der backsteinernen Mauer, die unseren Garten von dem öden Stück Land dahinter trennte. Dank Nans Komposthaufen konnte man mich vom Haus aus nicht sehen, was mir zusätzlich zum Schlafzauber Sicherheit gab.
    Schnell und geräuschlos bereitete ich meinen Kreis vor, stellte Energiesteine auf, füllte die vier Pokale und zündete Weihrauch an. Dabei ging mir so viel im Kopf herum, dass ich die Abfolge durcheinanderbrachte, beim leisesten Geräusch zusammenzuckte und den Pokal mit dem Wasser umstieß. Ich dachte daran, wie ich Luc gestern im Botanika getroffen hatte, und fragte mich, weshalb ich ihn einen Augenblick lang für Richard gehalten hatte. Und überhaupt, Richard … Warum hatte ich ihn geküsst, wo Luc doch der Einzige war, den ich küssen wollte?
    Beide waren sie Mitglieder der Treize, dieser neuen Instanz, die sich so langsam meines Lebens bemächtigte. Nun war Marcel eingetroffen und Claire wahrscheinlich auch. Sie alle befanden sich in New Orleans – diese Stadt war wie ein Kessel und die Treize würde sehr bald schon zum Kochen kommen.
    Wenn es so weit war, musste ich bereit sein – und genau aus diesem Grund hielt ich mich hier draußen auf.
    Ich hatte zwei Ziele: einen Schutzzauber für Thais und mich bereitzuhalten und einen, der die Kraft kontrollierte, die der Ritus heraufbeschwören würde, um uns unsterblich zu machen. Thais und ich würden nicht sterben. Ich war mir sicher, dass dies auch Thais’ Wille wäre, wenn ich sie erst überzeugt hätte. Unsterblich. Allein das Wort jagte mir Schauer über den Rücken. Der Gedanke daran. Für immer weiterzumachen. Mehr und mehr zu lernen. Hundert Jahre lang, zweihundert. Ich lächelte bitter. Vielleicht würde in zweihundert Jahren zwischen mir, Luc und Thais alles stimmen. Vielleicht könnte ich ihn die ersten hundert Jahre haben und sie … nein.
    Und doch verfügte ich über die Magie, die das vollbringen konnte.
    Endlich stand alles an seinem Platz. Ich öffnete das alte Zauberbuch, das ich gestern Abend im Botanika gefunden hatte. Darin gab es einen Zauber, den Hermann Parfitte als »grundlegend« bezeichnete.
    Nervös ging ich ihn noch einmal durch und versicherte mich, dass ich auch wirklich alles richtig angeordnet hatte. Es war ein Zauber, der die Macht von anderen auf einen selbst lenkte – und zugleich der erste Schritt, den man lernen musste, um diese Macht zu kontrollieren oder zu unterwandern. Ich würde mit kleineren Geschöpfen wie Ungeziefer beginnen und mich dann langsam zu den Menschen vorarbeiten.
    Es war furchterregend, dunkel und zugleich aufregend und lief allem zuwider, was ich je gelernt hatte. Von allen Zaubern war dieser am strengsten verboten. Und in den falschen Händen konnte er unvorstellbar Böses anrichten.
    Aber ich wollte ja nichts Böses damit. Ich praktizierte ihn zu meinem Schutz und dem meiner Familie. Ich würde lernen, ihn zu beherrschen, bevor Daedalus ihn – schon wieder – auf mich anwandte. Nach einem letzten Blick auf den dunklen Garten und die Fenster des schlafenden Hauses schloss ich die Augen, legte meine Hände mit den Handflächen nach oben auf die Knie und konzentrierte mich. Vom Haaransatz bis zur kleinen Zehe entspannte ich alle Muskeln. Ich spürte, wie sich alles lockerte, meine Schultern, meine Handgelenke, mein Nacken. Die Grenzen zwischen mir und der Magie begannen zu verschwinden. Ich wurde ein Teil der Welt und die Welt ein Teil von mir. Dieses freudigen Gefühls der Ganzheit wurde ich nie müde, bei dem alles einen Sinn ergab, vollständig und perfekt erschien, einfach so wie es war. Ich wusste nicht, weshalb es nie anhielt, wenn ich aus der Trance erwachte – ich wusste nur, dass es eben so war. In der normalen Welt waren die Farben blasser, Klänge misstönender, Empfindungen nie so gelöst.
    Ich begann sehr, sehr leise, beinahe stimmlos zu singen. Der Spruch war auf Französisch verfasst und so alt, dass ich kaum etwas davon übersetzen konnte. Ich betete, dass sich in den Worten kein unausgesprochener böser Hintersinn verbarg. Ich sang den Zauber und dann mein Lied, ein Flüstern meines eigenen Namens, das mich im Sinnzusammenhang der Welt verankerte. Das

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