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Eine Feder aus Stein

Eine Feder aus Stein

Titel: Eine Feder aus Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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neben mir und blickte wieder zu dem Balkon hinauf. »Dieser ganze Teil hier ist völlig verrostet«, sagte er. »Es ist ein Wunder, dass er nicht schon früher runtergefallen ist. Lass mal deinen Arm sehen.«
    »Es ist nur ein Kratzer«, sagte ich, weil ich mich nicht von ihm anfassen lassen mochte. Vor lauter Adrenalin würde ich nur noch zittriger werden. Ich fühlte mich unsicher und wollte nach Hause. »Nun, ich schätze, diesmal war es nicht Richard.«
    Lucs Augen wurden schmal. Sein Gesicht war unbewegt und kalt. »Was meinst du damit, ›nicht Richard‹?«

Kapitel 30
    Clio
    Racey nahm mich erst in die Stadt mit, nachdem ich ihr versichert hatte, dass Nan sie nicht in eine Kröte verwandeln würde, weil sie mir geholfen hatte.
    »Warte nur, wenn sie mir das Leben schwer macht, kriegst du’s mit mir zu tun«, sagte Racey.
    »Na gut.«
    Ich ließ mich ein paar Blocks vor Richards Wohnung absetzen, damit ich noch ein wenig Zeit hatte, mich zu sammeln. Seit Thais und ich uns von dem Schreck erholt hatten, beinahe ertrunken zu sein, hatte ich es nicht erwarten können, Richard in die Finger zu kriegen, und das nicht in positivem Sinne. Ich hatte mich immer noch nicht von unserer Entdeckung erholt. Ich war ausgebrannt und wie ausgehöhlt von dem Gefühl, verraten und enttäuscht worden zu sein. Von den fünfzig Jungs, mit denen ich ausgegangen war, war mir nur Luc wirklich wichtig gewesen. Und seit Luc war Richard das einzige männliche Wesen, das es geschafft hatte, an mich heranzukommen. Beide waren die totale Katastrophe, und allmählich kam es mir so vor, als wäre ich gar nicht mehr ich. Solche Dinge passierten anderen, aber nicht der fantastischen Clio, die von den meisten Mädchen ihrer Schule beneidet wurde.
    Bei Richard angekommen, drückte ich unablässig die Klingel. Ich unternahm gar nicht erst den Versuch, zu erspüren, ob Luc da war – es war mir völlig egal. Ganz gleich, was passierte, ich würde mich auf Richard stürzen. Über mir zog eine dunkelviolette Wolkenbank auf. Uns stand in mehrfacher Hinsicht ein Sturm bevor.
    Niemand öffnete. Ich zwang mich, langsamer zu atmen und meine wirren Gefühle zu beruhigen. Ich legte die Stirn an die Holztür. Richard war da drinnen, doch ich konnte seine Gegenwart nur verhalten und nicht besonders intensiv fühlen. Vielleicht schlief er.
    In unserer Religion hatten wir ein paar grundlegende, aber überaus wichtige Regeln. Das Gesetz der dreifachen Rückkehr zum Beispiel, wo man anerkannte, dass alles, was man tat, was man in die Welt aussandte, dreimal so stark wieder zu einem zurückkehrte. Diesbezüglich war also Vorsicht geboten. Und es gab noch andere Regeln, die besagten, dass man Menschen nicht kontrollieren, ihren Willen nicht untergraben und Ereignisse, die andere betrafen, nicht manipulieren durfte. Diese Regel hatte ich bereits gebrochen. Ich bewegte mich auf einem schmalen Grat.
    In einer weiteren Regel hieß es, man solle nicht in die Gedanken, den Raum und die Dinge anderer Leute eindringen, oder gar in sie selbst. Zumindest nicht ohne ihre Erlaubnis. Ich war im Begriff, genau das zu tun.
    Ich sah mich um, bevor ich das Schloss an Richards und Lucs Tür nachfuhr. Ich konzentrierte mich, rief mir den Schließmechanismus vor Augen, sah, wie sich die Zuhaltungen umlegten, nach unten einrasteten und sich die Tür mit einem leisen Klicken öffnete. Ich drehte den Türknauf und stürzte in die Wohnung, wobei ich die Tür so laut hinter mir zuschlug, wie ich nur konnte.
    Ich war schon in der Mitte des Flurs, als Richard aus seinem Zimmer kam. Ein Ausdruck wachsamer Besorgnis lag auf seinem Gesicht. Als er mich sah, ließ er resigniert die Schultern hängen.
    »Ich weiß, warum du hier …«, fing er an, als ich ihm meine schwere Kuriertasche mit voller Wucht in die Flanke schleuderte. Er stürzte gegen die Flurwand.
    »Verda…«, setzte er erneut an und hielt abwehrend den Arm hoch, doch ich hatte schon mit der Faust ausgeholt. Er fing sie ab, umklammerte mein Handgelenk wie ein Schraubstock und warf meine Kuriertasche weg. Dann griff er sich mein anderes Handgelenk. Ich war entsetzt, wie viel Kraft er besaß, wie schnell er mich ausgebremst hatte. Offen gestanden hatte ich gedacht, er würde meinen Zorn einfach hinnehmen, sich entschuldigen, zu Kreuze kriechen und mich meine Wut so richtig abreagieren lassen – so wie es die meisten anderen Jungs eben taten.
    Ich holte mit dem Fuß aus, um ihn zu treten, doch in nur einer Sekunde hatte er seinen

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