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Eine Frage der Balance

Eine Frage der Balance

Titel: Eine Frage der Balance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana W. Jones
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wer hätte ihn bei dem Lärm hören sollen? Der Pfad erstreckte sich mittlerweile bis in die Hälfte des Zimmers, nachtdunkel und schwach fluoreszierend, und ich war froh über jede Erinnerung an die reale Welt. Ich hatte über meine Fehler nachgedacht. Nicht besonders erbaulich. Im Sitzungsprotokoll eines Therapeuten würde vermutlich stehen, daß ich ein gerüttelt Maß an Eigenliebe und Stolz auf meine Fähigkeiten als Magid mit einer kläglichen Tendenz, mich auf andere zu stützen, verbinde - Will und Stan, zum Beispiel. Schwer zu beurteilen, ob ich die schlimmeren Fehler machte, wenn ich einen Rat befolgte oder wenn ich frisch und frei aus eigenem Ermessen handelte. Marees Ex-Mutter, Mrs. Nuttall, hatte mich wahrscheinlich ganz richtig beurteilt, auch wenn sie mich für jemand anderen hielt.
    Ich wünschte, es fiele mir leichter, Beziehungen zu anderen Menschen anzuknüpfen, aber wenn ich mich auf etwas einließ, endete es damit, daß ich sie enttäuschte, und das verabscheute ich an mir.
    Das fünfte Paar Kerzen zündete ich eher zu früh an, als könnte ich den Selbstzweifeln, Selbstvorwürfen entfliehen, indem ich mich bewegte, Beschäftigung suchte.
    Ich setzte mich hin, und schon überfiel mich wieder der Gedanke an die drei ermordeten Kinder. Ich hätte es verhindern können. Zugegeben, ich war abgelenkt gewesen von antagonistischen Zaubern, die zu überwinden waren, und Zaubern, die ich wirken mußte, aber ich hätte nicht abgelenkt sein dürfen. Und falls es tatsächlich bestimmt gewesen war, hatte die Obere Kammer sich meine Achtung verscherzt. Ich sah die primitiven Sandalen der Kinder vor mir, ihr langes, nicht sonderlich gepflegtes Haar so streng in Zöpfen gefangen. Ich sah ihre angespannten, verwirrten, unwissenden Gesichter. Hinter diesen Gesichtern gab es Gehirne, die nie ermutigt worden waren zu arbeiten. Man hatte ihnen angesehen, daß ihre Gedanken in ebenso engen Grenzen gehalten wurden wie sie selbst innerhalb dieses trostlosen Mauerrings mitten in der Einsamkeit. Ein Gefängnis in zweifacher Hinsicht, für Körper und Geist, wo man jede Regung von Phantasie im Keim erstickte und ihnen die Fähigkeit nahm, sich eine größere, wärmere, buntere Welt auch nur zu denken. Es war dieselbe Geschichte wie mit Marees Onkel Ted und seinen Fensterscheiben - ich lächelte bei der Erinnerung, wie sie mir aufgebracht davon erzählt hatte, während wir die Bücherstände durchstöberten - außer, daß diese Kinder nicht bewußt den Entschluß gefaßt hatten, nur das fehlerhafte alte Glas zu sehen und nicht die Wunder dahinter. Das Glas war alles, was man ihnen gegeben hatte. Und gerade, als sich für sie eine hellere Zukunft abzeichnete, ein Weg hinaus aus dem Getto, hatte man ihrem Leben brutal ein Ende gesetzt.
    Ich gebe es zu, eine Weile saß ich da und weinte stumm, wie Rob um seinen Oheim und Lehrer Knarros.
    Dann dachte ich, daß wenigstens Maree nicht zu einem solchen Dasein verurteilt gewesen war. Ich war froh darüber. Es tröstete mich, an sie zu denken, und ich hoffte, sie würde mir vergeben. Wenn sie zurückkehrte - wenn, wenn, wenn -, würde sich etwas ändern, weil Maree über die Mauern hinausgesehen hatte. Sie war so ein Mensch. Wenn man sie einsperrte, würde sie sich mit zornigen Fingernageldolchen den Weg in die Freiheit ertrotzen. Auch sie war gefangen gewesen, bedrückt von der Tyrannei derselben Dornbuschgöttin, aber sie hatte sich nicht unterkriegen lassen. Ich hoffte, ihr Leben würde von nun an leichter sein, daß ich helfen konnte, es leichter, besser, schöner zu machen. Ich wünschte mir, daß sie zurückkam, mehr als alles andere in meinem Leben.
    Aber die Stunden vergingen. Das fünfte Paar Kerzen erlosch knisternd, und niemand kam wieder.
    Ich war im Sitzen eingeschlafen, als mich ein Geräusch weckte.

Kapitel 22
Rupert Venables, Fortsetzung

    Ein Geräusch bei mir im Zimmer: leises Tappen, helles Klappern und Steinerollen. Ich war schlagartig hellwach.
    Das sechste Kerzenpaar war ein gutes Stück kürzer geworden, aber noch bestand keine Gefahr, daß sie erloschen. In ihrem Schein sah ich den Pfad, der ins Zimmer reichte, die Kante des Abhangs und dahinter die stille dunkle Landschaft. Vorgebeugt, die Hände um die Ränder des Stu hls geklammert, starrte ich gespannt auf die Stelle, wo der Pfad scheinbar abbrach, weil er steil hangabwärts führte.
    Wieder tappende Geräusche, langsam und gemessen, dann spazierten zu meinem fassungslosen Erstaunen zwei Vögel über die

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