Eine Frage der Balance
nahm ich an, ziemlich radikal, wie überhaupt in der Durchsetzung dessen, was er wollte. Was Nick wollte, wirklich wollte, entzog sich meiner Kenntnis - ganz sicher war es nicht die Krone eines Kaiserreichs -, denn Nick besaß tief innen einen dunklen, geheimen Kern. Gut möglich, daß er momentan selbst noch nicht genau wußte, was sich darin befand, doch seinem Instinkt folgend setzte er sich ab, wann immer dieser Kern bedroht wurde. Er würde es auch diesmal tun, dessen war ich sicher. Rob und Nick hatten beide ihres Vaters Egozentrik geerbt, dieselbe Egozentrik, die Timos dazu veranlaßt hatte, dieses ganze Tohuwabohu zu inszenieren.
Maree schien mir von diesem Charakterzug verschont geblieben zu sein - eins der Dinge, die ich an ihr zu lieben gelernt hatte. Ich wünschte mir sehr, hoffen zu dürfen, daß es Eigenschaften gab, die sie an mir sympathisch fand, doch bei einem spontanen Erkenne dich selbst fiel mir keine ein.
Lieber versuchte ich eine Analyse von Maree, rigorose, unglückliche kleine Kämpferin, die sie war. Sie konnte den Dingen auf den Grund sehen, ich fragte mich nur, ob sie auch jemals auf den Grund ihr er Seele schaute. Es konnte sein, daß sie in dieser Hinsicht zu wenig selbstsüchtig war. Menschen, die ihre eigene Person als sakrosankt betrachten - wie Nick und sein Vater, Timos IX. - wissen, wann es sich lohnt zu kämpfen und wann nicht. Ich bezweifelte, daß Maree es wußte. Ihr war zuzutrauen, daß sie sich da draußen für eine Nichtigkeit opferte. Oder daß sie unterlag, weil sie sich nicht verteidigte, wo es angebracht war. Nachdem sie schon durch den Verlust einer Hälfte ihres Selbst geschwächt war, konnte jede weitere Beanspruchung verhängnisvoll sein...
Wie gesagt, ich war froh, daß das Grölen und die ferne Musik sich in mein Bewußtsein drängten. Ich unternahm eine energische Anstrengung, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Janine und ihr Bruder Gram White und ihre Umsturzpläne ...
Vor langer Zeit mußte Janine T im os IX. irgendwie überredet haben, sie mit ihrem eigenen Sohn und Maree ins Exil gehen zu lassen, in eine fremde Welt, wo Janine offenbar sehr bald Ted Mallory heiratete und es so einzurichten wußte, daß Maree von dem Bruder ihres Mannes, Derek, adoptiert wurde. Der Kaiser ließ sie gehen. Sie war nur eine Gespielin, und jemand wie Timos, der hinter jeder Ecke eine Verschwörung witterte, mußte gewußt haben, daß sie gewisse Ambitionen hegte. Davon abgesehen, konnte die Tatsache, daß sowohl Jani- nes Sohn als auch Maree (ebenfalls auf der falschen Seite des Bettes geboren?) älter waren als die legitimen Nachkommen, in der Zukunft peinliche Konflikte heraufbeschwören. Der Kaiser hatte sie wahrscheinlich liebend gern nach Minderwärts verschifft und die Akte geschlossen. Wie sollte er ahnen, daß, als er aus politischem Kalkül eine Schwester von Knarros zur Gemahlin nahm und sich dadurch der Loyalität des Kentauren versicherte, drei Jahre später Gram White das gleiche tat? Die Geburt des Kentauren Kris verstrickte Knarros in eine kleine Dynastie und in weitere Familienbande, diesmal mit Janine.
Nein, der Kaiser konnte nichts davon geahnt haben, oder er hätte Knarros niemals zum Instruktor seiner anderen Sprößlinge eingesetzt.
Wie ging es weiter? Janine schien sich in Geduld gefaßt zu haben, bis Nick alt genug war, um einen glaubwürdigen Kaiser abzugeben (jedoch nicht alt genug, um sich gegen sie aufzulehnen), während White lernte, Schußwaffen herzustellen und damit umzugehen. Davor mußte er eine Ausbildung als Magier erhalten haben. Beide standen wahrscheinlich in ständiger Verbindung mit Sympathisanten in Koryfos und warteten auf den richtigen Zeitpunkt für das Attentat auf den Kaiser. Als der Augenblick kam ...
An diesem Punkt meiner Überlegungen durchfuhr mich wie ein Blitz eine furchtbare Erkenntnis. Ich hatte den Augenblick best imm t. Ich hatte im übertragenen Sinn den Zünder betätigt. Ich hatte angefangen nach Maree zu suchen. Ich hatte Janines beiden Schwägerinnen vorgemacht, ich wolle Maree in einer Erbschaftsangelegenheit sprechen; die eine mit den vielen Kindern hatte vor meinen Augen Janine angerufen und es ihr erzählt! Zusätzlich hatte ich Maree geschrieben und es Janine persönlich gesagt. Natürlich hatte sie auf den ersten Blick gewußt, daß ein Magid vor ihr stand, Bewohner von Mehrwärts haben einen sechsten Sinn dafür. Ich konnte mir vorstellen, was sie gedacht hatte. Statt »Erbschaft« nehme
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