Eine Frage der Balance
Statuen, aber da war ich schon so müde, daß ich es fast nicht bemerkte. Ich war einfach nur froh, daß niemand mich aufhielt und trottete weiter. So müde war ich, daß ich, in Ruperts Zimmer angekommen, kaum begriff, daß ich stehenbleiben durfte, weil ich die Reise beendet hatte, nach Babylon und wieder zurück.«
[3]
Sie saßen vorgebeugt auf ihren Plätzen und lauschten aufmerksam meinem Bericht, die Angehörigen der Oberen Kammer. Weil ich mich auf das Vorlesen konzentrierte, fiel mir erst nach einer Weile auf, daß Blatt für Blatt weggezaubert wurde, sobald ich mit einem fertig war. Jedesmal, wenn ich eine Seite unter den Stapel schob, verschwand sie. Am Ende hielt ich noch drei Blätter in der Hand. Ich richtete den Blick darauf. Auf dem obersten stand das Erlebnis mit den Kindern und den Vögeln.
Jemand ziemlich weit unten am Tisch fragte: »Weißt du, wer diese drei Kinder waren?«
Ich sagte: »Ja. Es müssen die Tochter und die zwei Söhne des Kaisers gewesen sein, die ermordet wurden.«
»Und was, glaubst du, hatte es mit den Vögeln auf sich?« erkundigte sich eine andere ferne Stimme.
»Ich weiß es nicht. Ich dachte, hier wüßte man über solche Dinge Bescheid.«
»Ich wünschte, es wäre so«, sagte der Mann rechts neben mir an meinem Ende des Tisches. »Diese Sache ist für uns so rätselhaft wie für dich und deine Gefährten.«
Dann waren es nur noch zwei Blätter. Auf dem obersten war beschrieben, wie wir im Flur die Entenküken jagten, nachdem ich das erste Mal zurückgekommen war. Mir wurde flau in der Magengegend.
Die Frage, vor der ich mich fürchtete, kam von der Bank an der Wand und wurde gestellt von einer sehr, sehr alten Dame mit eingefallenen Wangen. »Welche Gefühle hast du heute in bezug auf deine Mutter?«
Ich konnte darauf nicht antworten. Ich wußte einfach nicht, wie ich es sagen sollte, dabei hatte ich die ganze Zeit, seit Dad und Maree und ich nach Bristol zurückgefahren waren, darüber nachgedacht.
Die alte Dame sagte: »Versuch zu antworten. Vielleicht hilft es.«
Die einzige Möglichkeit einer Antwort bestand für mich darin, über etwas anderes zu sprechen. Ich sagte: »Vergangenes Jahr hatte ich einen Furunkel am Hals. Er war ziemlich imposant. Während er wuchs, war er wunderbar glatt und rund, etwas spitz und ebenmäßig, mit einer komischen, winzigen Kuhle in der Mitte oben. Wenn ich ihn betrachtete, sah er so richtig aus, daß man fast glauben konnte, er wäre ein normaler Teil meines Körpers und gehörte dahin. Doch er tat immer mehr weh und zwang mich, den Kopf schiefzuhalten. Schließlich ging Dad mit mir zum Arzt. Der Arzt warf nur einen kurzen Blick auf den Furunkel, dann schnitt er ihn auf. Es war eine fiese Bescherung und der Schmerz zehnmal schlimmer. Als ich nach Hause kam, sah die Stelle noch ekliger aus, näßte, und ich fühlte mich scheußlich, aber der Schmerz war ein viel besserer Schmerz, obwohl die Stelle noch lange weh getan hat und mir eine ziemliche Narbe geblieben ist.«
Die alte Dame nickte. »Eine gute Antwort.«
Dann hatte ich nur noch ein Blatt übrig. Ich schaute es an, und mein ganzer Körper verkrampfte sich. Es war
das letzte Blatt, und ich würde den Teufel tun und ihnen auf die Nase binden, was ich mir hatte wünschen wollen, nur wußte ich nicht, wie ich sie daran hindern sollte, mich zu zwingen, es ihnen zu verraten.
Jemand irgendwo am Tisch stellte die Frage. Er sagte: »Du hast dein Motiv nicht genannt. Du erwähnst nirgends, weshalb du bis zum Ende durchgehalten hast.«
»Wie meinen Sie das?« versuchte ich zu lavieren.
»Ich meine«, sagte er, »du erklärst, weshalb du dem Kentauren geholfen und gewünscht hast, daß deine Schwester ihre zweite Hälfte zurückbekommt, aber bei wenigstens einer Gelegenheit wolltest du umkehren, und aus deinem Bericht geht hervor, daß du die Möglichkeit gehabt hättest. Weshalb bist du weitergegangen?«
»Ach so.« Ich bemühte mich, sie nicht merken zu lassen, wie erleichtert ich war. »Ich bin weitergegangen, weil ich neugierig war, natürlich. Ich wollte wissen, wie die Geschichte ausgeht.«
Das schienen alle lustig zu finden. Am Tisch und auf den Bänken wurde gelacht, und danach waren alle meine Blätter verschwunden. Rupert schien zu glauben, wir dürften jetzt gehen, aber sie waren noch nicht fertig. Einer von den Ehrfurchtgebietenden auf den mittleren Plätzen sagte zu mir: »Einen Augenblick. Dieser Bericht über Babylon enthält wesentliche Teile des Großen
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