Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
die Kunst, ebenso wie für die Natur, eine jungfräuliche, reine bleiben muß, ohne den Beigeschmack niedriger menschlicher Leidenschaften.
Für den Unterricht der Kinder stellte ich selbst eine russische Grammatik zusammen, nach der die Kinder rasch richtig schreiben lernten. Bedauerlicherweise hat der Russischlehrer, der meine Arbeit sehr lobte, sie später verloren.
Einige der Geschichten, die ich für die Kinder erdachte, schrieb ich nieder und veröffentlichte sie in einer illustrierten Ausgabe. In der ersten Erzählung«Skelett-Püppchen»verwendete ich ein Motiv Lew Nikolajewitschs. Er hatte diese Erzählung zu schreiben begonnen, doch ihr Anfang war verlorengegangen. Ob die Aufzeichnungen in einem Reisekoffer unterwegs abhanden kamen oder zusammen mit anderen Manuskripten weggeschafft wurden, kann ich nicht sagen. 41
Meine Werke betrachtete ich stets mit einer gewissen herablassenden Ironie und sah in dieser meiner Beschäftigung Vorwitz. So kam ich nach
der Lektüre einiger Werke der Décadence auf die Idee, diese zu imitieren, und schrieb im Scherz einige Gedichte in Prosa mit dem Titel«Seufzer». Sie wurden, ohne daß die Autorschaft bekannt war, im März 1904 im« Shurnal dlja wsech » 42 veröffentlicht.
Von meinen schriftlichen Arbeiten erinnere ich mich noch zweier Übersetzungen, die Lew Nikolajewitsch mir auftrug. Eine aus dem Deutschen:«Die Lehre der zwölf Apostel», die er überarbeitete, und eine aus dem Englischen:«Die Sekte der Bechaisten».
Zu meinen Veröffentlichungen zählen auch einige Aufsätze in Zeitungen. Am meisten beachtet wurden: mein Aufruf zu Spenden für die Hungernden vom 3. November 1891 sowie mein Brief an die Metropoliten und den Synod nach der Exkommunikation meines Mannes durch die Kirche, die mich zutiefst empört und betrübt hatte. 43 Außerdem wurden mein Aufsatz«Erinnerungen an Turgenjew»im« Orlowski Westnik » 44 und ein kritischer Artikel über Leonid Andrejew 45 publiziert.
Wenn ich etwas Nützliches geschrieben habe, so sind dies die sieben umfangreichen, gebundenen Hefte mit dem Titel«Mein Leben». In ihnen schildere ich mein ganzes langes Leben bis
zum Jahr 1897. 46 Nachdem man mir nach dem Tod Lew Nikolajewitschs bar jeder gesetzlichen Grundlage den weiteren Zugang zum Historischen Museum in Moskau verweigerte, dem ich alle Dokumente, Tagebücher, Briefe, Notizhefte meines Mannes und meiner selbst übergeben hatte, konnte ich ohne jene Quellen die Arbeit an diesem Werk nicht fortsetzen, und drei Jahre meines ohnehin nur noch kurzen Lebens gingen für meine Arbeit verloren. Wer weiß denn mehr über das Leben Lew Nikolajewitschs als ich? Die Dokumente habe ich im Jahr 1894 zunächst zur Aufbewahrung ins Rumjanzew-Museum gegeben, später wurden sie, da dort Renovierungsarbeiten stattfanden, ins Historische Museum gebracht, wo sie sich bis zum heutigen Tage befinden, während die Entscheidung des Gerichts über ihr weiteres Schicksal erwartet wird. 47
VII
Im Sommer 1884 arbeitete Lew Nikolajewitsch viel auf dem Felde, mähte ganze Tage lang mit den Bauern und war, wenn er müde nach Hause kam, mißmutig und unzufrieden mit dem Leben seiner Familie. Dieses lief seinen Überzeugungen
zuwider, und das quälte und erbitterte ihn. Einige Zeit träumte er davon, mit einer einfachen russischen Bauersfrau heimlich fortzugehen und ein neues Leben anzufangen, wie er selbst mir eingestand. Schließlich nahm er am Abend des 17. Juni, nach einem Disput wegen der Pferde, ein Bündel mit ein paar Habseligkeiten über die Schulter, sagte, er gehe fort, für immer, vielleicht nach Amerika, und verließ das Haus. Bei mir hatten gerade die Geburtswehen eingesetzt. Das Verhalten meines Mannes stürzte mich in Verzweiflung, und dieses zweifache Leid, das körperliche und das seelische, war unerträglich. Ich flehte zu Gott um den Tod. Um vier Uhr morgens kehrte Lew Nikolajewitsch zurück und legte sich, ohne nach mir zu sehen, auf dem Diwan unten in seinem Arbeitszimmer schlafen. Ungeachtet meiner furchtbaren Schmerzen ging ich zu ihm; er war erbittert und sagte nichts. Um sieben Uhr morgens wurde ich von unserer Tochter Sascha entbunden. Niemals konnte ich diese grauenvolle, helle Juninacht vergessen.
Ein weiteres Mal wollte mich Lew Nikolajewitsch im Jahr 1897 verlassen. Davon indessen wußte niemand etwas. Er schrieb mir einen Brief, der mir, seinem Wunsch entsprechend, erst nach
seinem Tode übergeben wurde. Doch auch damals verließ er mich nicht.
Im Herbst
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