Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
wir uns entzweit haben, weiß ich nicht und kann es nicht mehr feststellen. Und worin haben wir uns entzweit?
Lew Nikolajewitschs Negierung der Kirche und des orthodoxen Glaubens wurde bewirkt durch die Erkenntnis von Wohl und Weisheit der Lehre Christi, die er für unvereinbar mit der kirchlichen Lehre hielt. Was mich angeht, so teilte ich seine Ansicht über das Evangelium, sah in ihm jedoch zugleich die Grundlage des orthodoxen Glaubens. Nach seinem Studium des Evangeliums und dem Versuch, ganz nach ihm sein
Leben auszurichten, begann Lew Nikolajewitsch wieder unter unserem vermeintlich luxuriösen Dasein zu leiden, das zu ändern mir die Kraft fehlte. Ich verstand einfach nicht, wozu, und hätte die gewohnte Lebensweise auch gar nicht anders einrichten können. Wenn ich, dem Wunsch meines Mannes folgend, den gesamten Besitz weggegeben hätte (unklar ist, wem), mit neun Kindern in Armut zurückgeblieben wäre, hätte ich für den Unterhalt der Familie aufkommen, waschen, nähen und die Kinder ohne jede Bildung lassen müssen. Lew Nikolajewitsch hätte aufgrund seiner Berufung und seiner Neigung keiner anderen Tätigkeit als dem Schreiben nachgehen können. Er fuhr ja regelmäßig von Moskau nach Jasnaja Poljana, lebte dort allein, schrieb, las und sann über seine Werke nach. Die Trennung von ihm ertrug ich immer schwer, aber ich erachtete sie als unabdingbar für seine geistige Tätigkeit und Erholung.
Auch mir, die ich älter wurde, gebot die äußere und innere Beschwerlichkeit meines Lebens, seine Belange ernsthafter zu betrachten, und wie in meiner frühen Jugend wandte ich mich der Philosophie, den Weisheiten der alten Denker zu. In jener Zeit, etwa in den Jahren 1881 und 1882, übersetzte ein naher Bekannter und häufiger
Gast unseres Hauses, Fürst Leonid Dmitrijewitsch Urussow 38 , der in Tula als Vizegouverneur diente, die«Selbstbetrachtungen»des Mark Aurel ins Russische und gab uns seine Arbeiten zu lesen. Die Selbstbetrachtungen dieses kaiserlichen Weisen machten auf mich einen starken Eindruck. Später brachte mir Fürst Urussow die Werke Senecas in französischer Übersetzung. Der glänzende Stil und der Ideenreichtum dieses Philosophen faszinierten mich so sehr, daß ich seine Werke zweimal las. Darauf befaßte ich mich mit einer Reihe anderer Philosophen und notierte mir aus den Büchern Gedanken und Sentenzen, die mich beeindruckten. Ich erinnere mich, wie sehr mich Epiktets Betrachtungen über den Tod begeisterten. Schwer verständlich schien mir Spinoza, doch seine Ethik, besonders die Darlegung seines Gottesverständnisses, weckte mein Interesse. Sokrates, Platon und andere, vor allem griechische, Philosophen fesselten mich, und ich kann sagen, daß die weisen Denker mir im Leben und Denken in vielerlei Hinsicht geholfen haben. Später versuchte ich auch, zeitgenössische Philosophen zu lesen, zum Beispiel Schopenhauer; die klassische Philosophie allerdings liebte ich sehr viel mehr. Von den philosophischen Werken Lew Nikolajewitschs
schien mir das beste und verständlichste«Über das Leben»zu sein, und ich übersetzte es mit Hilfe von Herrn Tastevin ins Französische. Ich arbeitete an der Übersetzung, als es mir körperlich besonders schlechtging, ich war in Erwartung der Geburt unseres letzten Kindes, Wanetschkas. Ich gab mir bei dieser Übersetzung besondere Mühe und fragte häufig meinen Mann und die Philosophen Nikolai Jakowlewitsch Grot 39 und Wladimir Sergejewitsch Solowjow 40 um Rat.
Schriftliche Arbeiten der verschiedensten Bereiche liebte ich immer sehr. Als Lew Nikolajewitsch sein«Abc-Buch»und die«Vier Lesebücher»zusammenstellte, betraute er mich damit, Sätze zu bilden, Erzählungen ins Russische zu übertragen und den russischen Gepflogenheiten anzupassen. Ich schrieb auch eine eigene kleine Geschichte,«Die Spatzen», und andere Erzählungen.
Aus Anlaß der Erzählung«Die Kreutzersonate», die mir nie gefallen hatte, verfaßte ich einen kurzen Roman aus der Perspektive der Frau, ließ ihn jedoch unveröffentlicht. Später schrieb ich noch eine weitere Erzählung mit dem Titel«Lied ohne Worte». Anlaß hierzu war der Eindruck, den bei einem Konzert das Verhalten junger Mädchen einem bekannten Pianisten gegenüber
auf mich gemacht hatte. Sie lagen ihm zu Füßen, küßten seine Galoschen, rissen sein Taschentuch in Stücke und waren völlig außer sich. Was hat dies denn mit Musik zu tun? Der Gedanke, den ich vermitteln wollte, war der, daß die Begeisterung für
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