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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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kaufte er ein Haus in Moskau und festigte damit gewissermaßen die Grundlage unseres Lebens in der Stadt. 32
    Die Entzweiung zwischen meinem Mann und mir vollzog sich nicht, weil ich mich seelisch von ihm entfernte. Mein Leben und ich blieben unverändert. Er entfernte sich, aber nicht im alltäglichen Leben, sondern in seinen Schriften, seinen
Predigten an die Menschen, wie man leben solle. Seiner Lehre zu folgen sah ich mich außerstande. Unsere Beziehungen zueinander aber blieben unverändert: Wir liebten einander wie zuvor, es fiel uns ebenso schwer wie zuvor, wenn wir uns trennen mußten, und es war zu spüren, wie es ein alter und geschätzter Freund unserer Familie ausdrückte, daß man«nicht ein einziges Gran bei Ihnen beiden hinzufügen oder wegnehmen dürfe, ohne jene bewundernswerte Harmonie, jene Abgeschiedenheit des geistigen Lebens, die Sie umgibt, zu zerstören».
    Unser Glück und unsere Harmonie wurden nur manchmal durch unbegründete Eifersucht auf beiden Seiten getrübt. Beide impulsiv und leidenschaftlich, konnten wir uns nicht vorstellen, daß irgend jemand uns voneinander zu trennen vermöge. Diese Eifersucht erwachte mit furchtbarer Kraft in mir, als ich am Ende unseres Lebens plötzlich sah, daß die mir so viele Jahre offenstehende Seele meines Mannes sich mir jäh verschloß und einem völlig Fremden öffnete, unabänderlich und ohne jeglichen erkennbaren Grund. 33

VI
    Im Laufe von vier Jahren hatten wir fünf Todesfälle in unserem Hause zu beklagen. Es verstarben zwei Tanten: im Jahr 1874 Tatjana Alexandrowna Jergolskaja und 1875 Pelageja Iljinitschna Juschkowa. 34 Überdies starben drei unserer kleinen Kinder, und ich selbst, die ich mich bei den Kindern mit Keuchhusten angesteckt hatte, erkrankte damals lebensgefährlich an einer Bauchfellentzündung, die zu einer Frühgeburt führte, und war dem Tode nahe.
    Ob es diese Ereignisse waren, die Lew Nikolajewitsch beeinflußten, oder ob es andere Gründe gab - die Unzufriedenheit mit seinem Dasein und seine Suche nach einer endgültigen Wahrheit wurden erstrangig. Aus seiner«Beichte»und anderen Werken ist allgemein bekannt, daß er seinem Leben sogar durch Erhängen ein Ende bereiten wollte, da er bei seiner Suche keine befriedigende Antwort fand. Ich konnte mich nicht mehr wie einst glücklich fühlen, da mein Mann - obwohl er es freilich nicht offen aussprach - damit drohte, sich das Leben zu nehmen, wie er später damit drohte, uns zu verlassen. Gründe für seine Verzweiflung zu finden oder diese zu akzeptieren, war schwierig. Die
Familie führte ihr gewohntes, wohlanständiges Leben, doch dies stellte ihn nicht mehr zufrieden; er suchte den Sinn des Lebens in anderem, suchte den Glauben an Gott, erschauerte stets beim Gedanken an den Tod und fand nichts, das ihn hätte beruhigen und mit dem Tode versöhnen können. Er unterhielt sich mit dem Grafen Bobrinski 35 über die Lehre von Radstock 36 , dann diskutierte er mit dem Fürsten Sergej Semjonowitsch Urussow 37 über den orthodoxen Glauben und die Kirche, sprach mit Pilgern und Sektierern, mit Bischöfen, Mönchen und Priestern. Doch nichts und niemand konnte Lew Nikolajewitsch zufriedenstellen und ihn beruhigen. Der Geist der Negierung der vorhandenen Religionen, des Fortschritts, der Wissenschaften, der Künste, der Familie - all dessen, was die Menschheit in Jahrhunderten hervorgebracht hatte, wurde in Lew Nikolajewitsch immer stärker, und er wurde immer schwermütiger. Es war, als ob sein inneres Auge sich nur mehr auf das Schlechte und das Leiden der Menschen richtete und alles Heitere, Schöne und Gute verschwand. Ich konnte nicht begreifen, wie man mit solchen Anschauungen leben könne, es flößte mir Furcht ein, ich wurde unruhig und verzweifelte. Aber ich konnte mich mit meinen neun Kindern doch
nicht wie eine Wetterfahne dorthin drehen, wohin mein Mann, immerfort seine Anschauungen ändernd, sich begab. Bei ihm war es leidenschaftliche, aufrichtige Suche, bei mir wäre es tumbe Nachahmung gewesen, die sich auf die Familie sogar nachteilig ausgewirkt hätte. Darüber hinaus konnte und wollte ich mich aufgrund meiner Gefühle und Überzeugungen nicht von der Kirche lossagen, nach deren Grundsätzen ich, wie ich es seit der Kindheit gewohnt war, meine Gebete verrichtete. Lew Nikolajewitsch selbst war zu Beginn seines Suchens zwei Jahre lang äußerst rechtgläubig, befolgte alle Regeln und hielt die Fastenzeiten ein. Damals folgte ihm die Familie auf diesem Wege. Wann aber

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