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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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Seine frühe Konzeption von Liebe und Familienleben war ganz den traditionellen Werten verhaftet. Die Suche und das Streben nach Selbsterkenntnis und Lebenszielen außerhalb von Ehe und Mutterschaft war ihm Pervertierung der Weiblichkeit, die die Frau auf einen Irrweg führt und sie vom göttlichen Prinzip entfernt. Ist die Frau bereit, sein Ideal zu leben, überhöht Tolstoi sie, will sie anders leben, ist sie zum Scheitern verdammt.
    Von den positiven Frauenfiguren der früheren Werke ist in der Kreutzersonate nichts mehr geblieben. In diesem Spätwerk weist Tolstoi der Frau
die Rolle der Verführerin zu, deren einziges Ziel«nach Art notorisch verderbter Weibsbilder»darin bestehe, den Mann durch ihre Sinnlichkeit an sich zu binden, und die so seinen Untergang herbeiführe. Opfer der Ehetragödie ist in der Kreutzersonate nicht etwa die Frau, sondern Posdnyschew, der sich nur durch den Mord aus den Fesseln der Ehe und Sinnlichkeit befreien kann.
    In einer Zeit, in der mit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 auch in Rußland der Aufbruch in die Moderne begann, in einer«Atmosphäre des Frühlings», in der auch das liberale russische Bürgertum erstmals die Frauenfrage diskutierte und sich für die Rechte der Frau einsetzte, waren Tolstois Ansichten für viele eine Provokation. Zahlreiche Zeitgenossen verliehen ihrer Empörung über Die Kreutzersonate in Briefen, Artikeln und Pamphleten Ausdruck:«Die beiden Ehegatten haben nichts gemein, keine Ideale, Ideen, ja nicht einmal Gedanken, die sie miteinander austauschen», so der liberale Kritiker Leonid Obolenski.«Die Frau sieht in ihrem Manne kein menschliches Wesen, sondern allein die Quelle ihres Auskommens; und ebenso sieht er in ihr kein menschliches Wesen, sondern allein ein Objekt seiner rohen, tierischen Lust.»

    Das Fräulein Sofja Behrs war achtzehn Jahre alt, als es im September 1862 den Grafen Tolstoi heiratete - für westeuropäische Verhältnisse ziemlich jung, nicht aber für russische. Im Rußland des neunzehnten Jahrhunderts war dies das durchschnittliche Heiratsalter für Frauen. Sofja entstammte einer bürgerlichen Familie der russischen Intelligenzija, der Vater war Arzt mit recht gutgehender Praxis.
    In der Familie Behrs wurde besonderer Wert auf Erziehung und Bildung der Töchter gelegt, denn dies war das Kapital, mit dem sie, statt mit einer hohen Mitgift, ins Leben entlassen wurden. Vor der Eheschließung hatte Tolstaja 1861 an der Moskauer Universität das Hauslehrerinnenexamen abgelegt, was damals der bestmöglichen Bildung für junge Frauen entsprach. Das Studium an der Universität selbst wurde Frauen erst ein Jahrzehnt später gestattet.
    Romantisch verliebt in den viel älteren Grafen und bekannten Schriftsteller, zu dem sie aufsah, war Sofja Tolstaja, obwohl zu Unabhängigkeit und Eigenständigkeit erzogen, bereit, die Überzeugungen und Ansichten ihres Ehemannes über Ehe und Familie zu den ihren zu machen. Das Leben an der Seite und im Dienste des Schriftstellers schien der jungen Frau Rechtfertigung
genug, ihr eigenes Ich, ihre eigenen Begabungen zurückzustellen und sich und ihr Dasein ganz ihrem Mann zu widmen.
    Nach der Fertigstellung des Romans Anna Karenina (1878) geriet Tolstoi in eine geistige Krise. In den folgenden Jahren wandte er sich immer mehr von der Literatur ab und beschäftigte sich mit religiösen und gesellschaftlichen Fragen, übte Kritik am Gesellschaftssystem Rußlands, an den Eigentumsverhältnissen und der sozialen Ungleichheit. Sofja Tolstaja wollte und konnte der neuen Lehre ihres Mannes nicht folgen, es kam zum Bruch zwischen den Ehepartnern, der im Laufe der Jahre zunehmend unüberbrückbar wurde:«Unser Leben ist entzweit: Ich mit den Kindern, er mit seinen Ideen», beschrieb Tolstaja die neue Situation ihrer Ehe in ihrem Tagebuch.«Ich verspüre nicht, wie in früherer Zeit, Interesse an irgendeiner künstlerischen Arbeit. Ich erinnere mich daran, wie ich bei Krieg und Frieden darauf wartete, das Tagewerk Lew Nikolajewitschs abschreiben zu können, wie ich fieberhaft eilte, weiter und weiter zu schreiben, immer neue Schönheiten entdeckend. Jetzt aber langweilt mich dies. Ich sollte selbständig anfangen, an etwas zu arbeiten, sonst vertrocknet meine Seele noch ganz.»

    Die Kreutzersonate machte den Bruch zwischen den Ehegatten für alle Welt offensichtlich. Sofja Tolstaja war eine der ersten Leserinnen des Manuskripts. Seit Anbeginn ihrer damals fast drei ßig Jahre währenden Ehe mit dem

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