Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
Schriftsteller war sie ihm Helferin und Ratgeberin gewesen, hatte seine Werke kopiert und mit ihm diskutiert.«Sonja»- so die Anredeform für Sofja -«schreibt die Erzählung ab, sie ist erschüttert, und gestern nacht sprach sie von der Enttäuschung der jungen Frauen, der Leidenschaft der Männer, die ihnen anfangs so fremd ist... Sie ist ungerecht, denn sie versucht, sich zu rechtfertigen, doch um die Wahrheit zu verstehen und zu suchen, muß man innere Einkehr halten und bereuen», notierte Tolstoi in seinem Tagebuch.
Da die Frau durch ihre Sinnlichkeit zur«Sünde der Fleischlichkeit»verführe, verkörpert sie in Tolstois Kreutzersonate das Böse schlechthin. Der Dämon der Sexualität wird auf die Frau projiziert, die einst positiv verklärte Weiblichkeit ist nun Quelle der ständigen Gefahr für den stets nach Sittlichkeit und Erkenntnis strebenden Mann.
Sofja Tolstaja indes lag es fern, jene Schuld, die Tolstoi der Frau aufbürdete, auf sich zu nehmen. Die Bitternis darüber, wie sich ihr Eheleben gestaltete,
quälte sie seit den ersten Tagen ihres Zusammenlebens mit dem um fast zwanzig Jahre älteren Mann. Die Kreutzersonate riß bei Sofja Andrejewna alte Wunden auf. In ihrem Tagebuch beschäftigte sie sich mit der Erzählung und polemisierte gegen Tolstois Standpunkt:«Überall sagt Posdnyschew: Wir gaben uns der tierischen Leidenschaft hin, wir empfanden Überdruß - überall wir . Dabei hat die Frau eine ganz andere Wesensart, man darf die Empfindungen, zumindest die geschlechtlichen, nicht verallgemeinern; zu unterschiedlich stehen ein Mann und eine reine Frau dem gegenüber», erzürnte sich Sofja Tolstaja über den Protagonisten der Erzählung ihres Mannes.
Am stärksten jedoch verletzte sie,«daß die Erzählung gegen mich gerichtet ist», wie sie am 12. Februar 1891 im Tagebuch notierte.«Sie hat mich vor den Augen der ganzen Welt gedemütigt und den letzten Rest von Liebe zwischen uns zunichte gemacht.»Doch obwohl sie sich gekränkt fühlte, setzte Sofja Andrejewna alles daran, die Veröffentlichung der zunächst von der Zensur verbotenen Erzählung zu ermöglichen, und begab sich sogar selbst in die Hauptstadt Sankt Petersburg, um an höchster Stelle bei Zar Alexander III. die Druckerlaubnis zu erbitten.
Ihr Motiv dafür war, der Öffentlichkeit, die in Sofja Tolstaja das Vorbild für die Protagonistin der Kreutzersonate sah, zu zeigen,«wie wenig ich mit einem Opfer gemein habe».
Wie niemandem sonst war Tolstaja als Ehefrau offenbar, wie weit das reale Leben des mittlerweile zum Gewissen seiner Zeit avancierten Schriftstellers Lew Tolstoi von den von ihm postulierten Idealen der Enthaltsamkeit und Askese entfernt war. In den ersten drei Jahrzehnten ihrer Ehe war Sofja Tolstaja sechzehnmal schwanger. Sie gebar dreizehn Kinder und hatte drei Fehlgeburten. Als sie nach der Geburt des fünften Kindes auf ärztlichen Rat hin eine weitere Schwangerschaft zu vermeiden wünschte, hielt Tolstoi dieses Ansinnen für unannehmbar und zog deshalb sogar eine Trennung in Erwägung.
Die Schriftstellergattin, die ihrem eigenen literarischen Talent vor der Hochzeit entsagt und in einem Akt der Selbstaufgabe ihre von Tolstoi gelobte Erzählung Natascha zusammen mit ihren Jugendtagebüchern verbrannt hatte, hörte auf, das geistige und literarische Leben ihres Mannes als ihr eigenes zu begreifen. An die fünfzig Jahre alt, begann sie wieder zu schreiben und verfaßte
eine Antwort auf die Erzählung des Ehemannes.
Das Sujet ihrer literarischen Replik, deren vollständiger und wörtlich übersetzter Titel Wessen Fehl? Die Erzählung einer Frau. (Anläßlich der Kreutzersonate Lew Tolstois). Niedergeschrieben von der Gattin Lew Tolstois in den Jahren 1892/1893 lautet, entspricht jenem der Kreutzersonate : ein verhängnisvolles Ehedrama, das mit dem Mord des eifersüchtigen Ehemannes an seiner von ihm der Untreue verdächtigten Frau endet. Während in Tolstois Erzählung die Geschehnisse jedoch aus der Perspektive des männlichen Protagonisten dargestellt werden, erzählt Sofja Tolstaja die Geschichte vom Standpunkt der Frau aus.«Jenes Unverständnis für die weibliche Reinheit, jene Nichtachtung und jener ewige Verdacht des moralischen Falls, des Betrugs - all dies habe ich selbst durchlebt und wollte es in meinem Roman zum Ausdruck bringen... Ich habe versucht, jenen Unterschied zu zeigen, welcher der Liebe von Mann und Frau innewohnt. Dem Manne ist in erster Linie die körperliche Liebe wichtig, der Frau
Weitere Kostenlose Bücher