Eine Frage der Zeit
offensichtlich leidend seien, schonungsvoll ihrem Schweigen überlasse. Diese dankten es ihr stumm.
Am Abend zuvor war es spät geworden. Man hatte Kaisers Geburtstag gefeiert, das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Aus allen Ecken Deutsch-Ostafrikas waren die Kolonisten angereist: thüringische Baumwollpflanzer aus Usambara, bayrische Gummiplantagenbesitzer aus Ukami, holsteinische Sisalbauern aus Mahenge, schwäbische Zollbeamte aus Udjidji und sächsische Offiziere aus Tanga, preußische Missionare aus Bismarckburg und hannoveranische Großwildjäger aus Wasukuma, rheinländische Elfenbeinhändler aus Kigali und mecklenburgische Goldschürfer aus Sekenke und zwielichtige Abenteurer unbekannter Abstammung und Herkunft – alle hatten sich einträchtig auf dem festlich beflaggten Bismarckplatz versammelt, um der Parade der Schutztruppe beizuwohnen. Die Herren trugen Uniform, soweit sie dazu befugt waren, die Damen seidene Sommerröcke über steifen Fischbeinmiedern. Nach dem Zapfenstreich gab die Askarikapelle ein Platzkonzert unter der Leitung eines fahlen, fiebergeschüttelten Oberleutnants namens Karl Ernst Göring, der mit besorgniserregend roten Lippen den Takt vorgab. Die im Hafen vor Anker liegende Königsberg feuerte hundertundeins Salutschüsse ab. Gouverneur Schnee hielt mit kraftvoll über den Platz hallender Stimme eine Rede, erst in Suaheli, dann auf Deutsch, und sah von weitem überhaupt nicht aus wie ein junger Greis, sondern wie ein Mann in den besten Jahren. Er hob sein Sektglas, worauf alle Anwesenden wie aus einem Munde – die Kolonisten wie die Negersoldaten, die indischen und arabischen Zaungäste und die livrierten Diener – den Kaiser «Hoch! Hoch! Hoch!» leben ließen, dass die schwarzen Palmenblätter am türkis, orange und lila leuchtenden Abendhimmel erschauerten. Nach dem zweimaligen Vorbeimarsch der Askari nahm der Gouverneur die Ergebenheitsbezeugungen des Sultans von Sansibar sowie der arabischen, indischen und eingeborenen Würdenträger entgegen, und dann hatte Ada Schnee ihren alljährlichen, mit Spannung erwarteten Auftritt. Sie führte ein vielleicht siebenjähriges Ngoni-Mädchen in einem weißen Musselinkleid mit rosa Nelkenmuster zum Rednerpult, und dieses gab mit glockenklarer Stimme und in reinstem hannoveranischen Deutsch folgenden Vers zum Besten:
«Der Kaiser ist ein lieber Mann
und wohnet in Berlin,
und wär’ es nicht so weit von hier,
so lief ich heut noch hin,
und was ich bei dem Kaiser wollt’,
ich reicht’ ihm meine Hand
und reicht’ die schönsten Blumen ihm,
die ich im Garten fand,
und sagte dann:
‹Aus treuer Lieb bring’ ich die Blumen dir›,
und dann lief ich geschwind hinfort
und wär’ bald wieder hier.»
Als bei Anbruch der Nacht die Moskitos aus den Wiesen stiegen, gingen die Zaungäste nach Hause, und die Soldaten zogen sich in die Kaserne zurück, um schnellstmöglich die zwölf Fässer Honigbier zu leeren, die man ihnen spendiert hatte. Auf dem Bismarckplatz wurden Fackeln und Räucherstäbe entzündet, und die Damen rieben sich Gesicht, Hände und Fesseln mit Nelkenöl ein. Die Kapelle spielte «Heil Dir im Siegerkranz», dann das Deutschlandlied und «Die Wacht am Rhein». Es gab Sekt für alle Europäer, und man ließ noch mal den Kaiser hochleben. Während der folgenden Stunde hatten die kleinen Pflanzer und Beamten Gelegenheit, ihre diplomatischen Missionen vorzubringen.
«Herr Oberzolldirektor, nichts für ungut, aber das Zollformular römischdreistrichvier ist in der Praxis, Sie müssen schon entschuldigen, komplett untauglich.»
«Herr Kommandant, ich flehe Sie an, befehlen Sie der Schutztruppe endlich eine scharfe Strafexpedition gegen die viehräuberischen Massai.»
«Was sagten Sie, wie hoch notierte Ceylon-Kautschuk am Sonnabend?»
«Dreiundvierzig neun. Die Massai, verstehen Sie, hängen seit Urzeiten der Überzeugung an, dass alles Vieh auf der Welt ihr Eigentum sei. Wenn man deren Nachbar ist, stehen die plötzlich vor der Tür und fordern es ein!»
«Die Nordbahn ist wieder unterbrochen, weil die Termiten uns die Schwellen unter den Schienen wegfressen. Sie müssen sich das vorstellen: harte deutsche Eiche aus dem Schwarzwald, und die fressen sie einfach weg. Jetzt haben wir alle rausgenommen, dreihunderttausend Stück, und zum Teeren zurück nach Hamburg geschickt.»
«Wann trifft die Windhoek ein?»
«Sonnabend. Aber wissen Sie was? Geteert schmecken die Schwellen den Viechern noch
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