Eine Frage der Zeit
Säureattentate verübt oder Tomaten gegen Angehörige des Königshauses geschleudert hätte, ist nicht bekannt und wenig wahrscheinlich. Gut möglich ist aber, dass sie nachts in versteckten Kellern Flugblätter druckte und diese tagsüber in den Straßen verteilte, und dass sie mit wehenden Röcken davonrannte, wenn die Polizei auftauchte. Wenn Spicer am Wochenende heimkam, erzählte sie ihm mit leuchtenden Augen ihre Kämpfe der vergangenen Woche, und er nahm die Lageberichte solidarisch mit soldatischem Ernst entgegen.
Aber dann erschoss am 28. Juni in Sarajewo der neunzehnjährige Gymnasiast Gavrilo Princip den österreichischen Kronprinzen Franz Ferdinand und dessen Gattin Sophie, und in London hatten alle Diskussionen um das Frauenstimmrecht für vier Jahre ein Ende.
8
Giraffenhälse und Telegraphenstangen
Die drei Papenburger am Tanganikasee ahnten von all dem nichts. Sie liefen jeden Morgen bei Sonnenaufgang hinunter zur Helling, auf der die Götzen mehr und mehr Gestalt annahm. Anton Rüter begann seinen Arbeitstag jeweils damit, dass er die Nachtwachen entließ und auf einem Tisch, den er im Schatten des Schiffes aufgestellt hatte, seine Pläne ausbreitete. Teilmann schürte in der Schmiede das Feuer und legte Holz nach, und der junge Wendt schloss die Lagerschuppen auf und verteilte, sobald Korporal Schäffler die Arbeiter hergeführt hatte, das Werkzeug, das im Lauf des Tages benötigt wurde.
Die Arbeiten gingen gut und rasch voran. Über der Baustelle lag der Duft der Holzfeuer, in denen die Nieten bis zur Rotglut erhitzt wurden, und von den Bergwänden hallte das Klang-Klang der Luftdruck-Niethämmer wider. Jeden Morgen gegen neun Uhr tauchten aus dem Busch zwei Massai auf und trieben ein Rind zur Werft. Sie schächteten und zerlegten das Rind am Seeufer und brieten es an Ort und Stelle, und am Mittag setzten sich Rüter, Wendt und Tellmann einträchtig mit den Arbeitern in den Sand und aßen es auf. Nach Feierabend traf man sich in Wendt’s Biergarten. Zwei Monate waren vergangen seit jenem stummen Skandal am Abend, da Samblakira erstmals offiziell in Wendts Haus übernachtet hatte. Weder Rüter noch Teilmann hatten die Sache je zur Sprache gebracht, aber beide waren den gemeinsamen Mahlzeiten drei Tage lang ferngeblieben. Am vierten Tag dann hatte Wendt dem unausgesprochenen Boykott ein Ende bereitet, indem er ihnen nach Feierabend auf dem Heimweg mit gespielter Strenge hinterher rief: «Heute Abend achtzehn Uhr dreißig! Ich dulde keine Verspätung!»
Worauf Rüter und Teilmann ihrem jungen Kollegen bereitwillig gehorchten und das Ritual Wiederaufnahmen, als ob nie etwas gewesen wäre. Aber natürlich war doch etwas gewesen. Hermann Wendt war sehr erleichtert, dass die Freunde wieder bei ihm im Biergarten erschienen, und er bewirtete Anton Rüter mit besonderer Aufmerksamkeit, um ihn wissen zu lassen, dass er sich nicht als Sieger ihrer wortlosen Auseinandersetzung sah. Aber schuldig fühlen wollte er sich auch nicht. Er mochte Samblakira in ihrer fröhlichen Fülligkeit gern; sie sorgte bereitwillig für sein leibliches Wohl, ihr Lachen war ohne Falschheit, und in der Nacht beschützte sie ihn vor der Einsamkeit, die der Jüngling fernab der Heimat ein Jahr lang wohl nicht ertragen hätte. Wenn sie sich liebten, spielte sie ihm keine Liebeskomödie und keine falsche Ekstase vor, wie das die Papenburger Mädchen oft taten, sondern bediente sich seiner und gab sich ihm selbstverständlich hin, weil Mann und Weib einander nun mal benötigen wie Wasser und Brot und sieben Stunden Schlaf. Natürlich war ihm klar, dass sie ihn nicht liebte, sondern nachts hauptsächlich deswegen bei ihm blieb, weil er ihr Geld schenkte. Aber trotzdem wollte er nichts Falsches darin sehen, wenn er neben diesem kugelrunden Wesen wach lag, das fremd roch und sich ungewohnt bewegte und sonderbare Laute von sich gab, und das sogar auf ungewohnte Weise stillhielt, und das er vorsichtig und mit einem vagen Gefühl der Schuld betastete.
Auch Anton Rüter lebte seit einiger Zeit im Gefühl, seine Unschuld verloren zu haben. Zwar warf er Wendt keine scheelen Blicke mehr zu, freundete sich sogar mit Samblakira an und ließ es auch zu, dass das nackte Hutzelweib gelegentlich in seinem Wohnhaus reinemachte; aber so richtig fand er nicht mehr zurück zu der glücklichen Unbefangenheit, die er in den ersten Tagen empfunden hatte, als er noch daran geglaubt hatte, dass er in Afrika ehrliche Arbeit leisten
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