Eine Frage der Zeit
sich. Letzte Woche haben zwei Suffragetten in der Westminster Abbey den Krönungssessel der englischen Könige in die Luft gesprengt.»
«Aber es sind Ladies», sagte Spicer.
«Kürzlich hat eine von ihnen Wellingtons Porträt in der Royal Academy zerschnitten», sagte Hanschell. «Und vor zwei Monaten hat eine in der Kirche von Saint Martin-in-the-Fields eine Bombe gezündet.»
«Wegen des Stimmrechts?»
«Wegen des Stimmrechts», sagte Hanschell. «Sie schlagen Fenster ein, stecken Briefkästen in Brand und zerstören Golfplätze mit Säure.»
«Und dann knüppelt man sie nieder?»
«Man knüppelt sie nieder und steckt sie ins Gefängnis. Sie verbüßen langjährige Haftstrafen wie Kindsmörderinnen und Giftmischerinnen. Dann treten sie in Hungerstreik und werden zwangsernährt. Vier Gefängniswärter drücken sie auf ihre Pritsche nieder, während ein fünfter ihnen einen Schlauch durch die Nase einführt, durch den eine nährstoffreiche Gemüsesuppe fließt. Die Suppe gerät in die Luftröhre und verursacht Lungenentzündung, worauf die Zwangsernährung rektal fortgesetzt wird, was aus medizinischer Sicht komplett sinnlos und extrem gefährlich ist. Wenn die Gefangene in derart schlechtem Zustand ist, dass ihr Tod befürchtet werden muss, wird sie aufgrund des ‹Cat and Mouse Act› auf freien Fuß gesetzt, bis es ihr wieder besser geht. Dann nimmt die Polizei sie erneut fest und setzt sie in Haft, bis sie wiederum krank wird oder ihre Strafe abgebüßt hat.»
«Und all das wegen des Frauenstimmrechts?» Natürlich war es Geoffrey Spicer Simson nicht entgangen, dass es Frauenrechtlerinnen gab, denn er verfolgte das politische Tagesgeschehen in den Zeitungen seit frühester Jugend mit distanziertem Interesse. Als Offizier wusste er um die Bedeutsamkeit der Politik, da sie die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln war; aber die Politiker und ihre Geschäfte fand er, ohne die Einzelheiten kennen zu wollen, allesamt schmutzig und ein wenig eklig und eines Marineoffiziers in jedem Fall unwürdig. In der Frage des Frauenstimmrechts neigte er zur Ansicht, dass dessen Einführung vor allem die Zahl der Wählerstimmen verdoppeln, ansonsten aber nicht viel ändern würde. Was ihn und Amy betraf, so konnte er sich nicht vorstellen, dass sie als Ehepaar unterschiedliche politische Standpunkte vertreten würden. Insofern würde das Frauenstimmrecht zu keinerlei Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse führen; andererseits war es gerade deswegen auch unnötig und würde nur administrativen Mehraufwand nach sich ziehen. An jenem dritten Samstag im Juni aber, da er das Bild der zwei blutenden Frauen bis in die Nacht hinein mit sich umhertrug, vollzog sich in Spicer ein Sinneswandel.
Wenn ihm die Sache selbst auch herzlich gleichgültig war, so konnte er als Gentleman doch nicht anders, als für die schwächere Seite Partei zu ergreifen. Es widersprach seinem soldatischen Sinn für Fairness, dass sieben Polizisten zwei komplett untrainierte Damen mittleren Alters niederschlugen, und es beleidigte ihn in seiner Ehre als Offizier, dass uniformierte Männer wehrlosen Frauen im Gefängnis unsäglichste Gewalt antaten, und zwar nicht im alten, heruntergekommenen China und nicht im barbarischen Afrika, sondern mitten im Herzen des Britischen Empire, im Epizentrum menschlicher Zivilisation. Er schämte sich dafür vor Amy, und er hatte das Bedürfnis, ihr in dieser Sache beizustehen und sie zu beschützen. Es kam deshalb für ihn weder überraschend noch unwillkommen, dass sie die Angelegenheit abends, als sie im Bett lagen und das Licht gelöscht hatten, zur Sprache brachte.
«Geoffrey», sagte sie.
«Was denn, Liebste?»
«Shirley Hanschell will am Montag ausgehen. Sie hätte gern, dass ich sie begleite.»
«Wohin denn, Liebste?»
«Zu einer Versammlung.»
«Einer Versammlung?»
«Einer Versammlung für Frauen, Geoffrey.»
«Ich verstehe.»
«Hast du etwas dagegen?»
«Was sollte ich denn dagegen haben, Liebste.»
«Das ist nett, dass du das sagst. Ich habe mir gedacht, ich könnte in nächster Zeit öfter ausgehen, wo du wochentags sowieso nicht hier bist.»
«Selbstverständlich kannst du das.»
«Sonst habe ich ja nichts zu tun. Das bisschen Haushalt hier füllt meinen Tag doch nicht aus.»
«Natürlich nicht», sagte Spicer. «Und Cardigans habe ich vorderhand auch genug.»
So kam es, dass Amy Spicer Simson sich im Sommer 1914 bei den Suffragetten engagierte. Dass sie Bomben gelegt,
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