Eine Frage der Zeit
nicht. Wochentags kreuzte sie zwei oder drei Meilen vor der Küste, mal nordwärts bis Hull, dann westwärts bis Portsmouth, und kontrollierte gelegentlich – immer ergebnislos – den Laderaum eines Fischkutters oder die Kajüte einer Jacht. Freitagabend kehrte sie stets nach Ramsgate zurück, und Spicer fuhr mit dem Abendzug fürs Wochenende nach London, wo seine Amy treu auf ihn wartete.
Dass die Spicers viel gesellschaftlichen Umgang gehabt hätten, kann man nicht sagen; sonderbarerweise fand sich unter den vierhunderttausend Angehörigen der königlichen Marine niemand, der sich mit ihnen anfreunden wollte. Kurz nach ihrer Heimkehr statteten sie Spicers Eltern in Fleetwod, Lancashire, einen Besuch ab, und einmal trafen sie seinen Bruder Theodore, der ein international bekannter Medaillongraveur war und irritierend wenig Interesse für Geoffreys militärische Laufbahn aufbrachte. Dann aber wäre es um die Spicers genauso einsam geworden wie damals am Yangtse oder im Mündungsdelta des Gambia – wenn nicht Amy glücklicherweise in der Pension am Russell Square einer Jugendfreundin namens Shirley begegnet wäre, die ebenfalls in Victoria, British Columbia, aufgewachsen war und jetzt mit ihrem Mann ein Zimmer am anderen Ende des Flurs bewohnte. Die zwei Frauen fanden heraus, dass sie noch mehr gemeinsam hatten. Sie schwärmten beide für Enrico Caruso und litten gelegentlich an Bluttiefdruck, und Shirley hatte wie Amy jahrelang in Afrika gelebt, weil ihr Ehemann Hother McCormick Hanschell als Arzt die Gelbfieber-Kampagne an der Goldküste geleitet hatte. Die zwei Frauen machten ihre Männer miteinander bekannt, und diese fanden Gefallen aneinander. Spicer fasste eine herzliche Zuneigung zum freundlichen und wortkargen Hanschell – vielleicht gerade weil er nichts mit der Kriegsmarine zu tun hatte, sondern als Chirurg im Seemannskrankenhaus an den Royal Albert Docks praktizierte. Umgekehrt hatte auch Hanschell Sympathie für Spicer, dessen unbelehrbarer Größenwahn in so wohltuendem Kontrast stand zur illusionslosen Todeserwartung der sterbenskranken Matrosen, mit denen er Tag und Nacht zu tun hatte. So kam es, dass die zwei Ehepaare ihre Wochenenden gemeinsam verbrachten; sie gingen zu viert im Hyde Park spazieren, mieteten ein Ruderboot, verbrachten ganze Nachmittage im Kaffeehaus oder gingen ins Kino.
Einmal lud Spicer alle in die ägyptische Abteilung des British Museum ein, hielt eine Vorlesung in Ägyptologie und erzählte Anekdoten aus seiner Zeit als Ausgrabungsleiter im Tal der Könige.
Es geschah am dritten Samstag im Juni, als die Spicers und die Hanschells friedlich über die Regent Street flanierten, dass wenige Schritte vor ihnen zwei Damen mittleren Alters, die offensichtlich den gehobenen Ständen angehörten, den Gehsteig mit einem mannshohen Schild versperrten, auf dem in großen Lettern «Womens’s vote now!» stand. Die Damen pfiffen gellend auf Trillerpfeifen, bis sie sich der Aufmerksamkeit der ganzen Straße gewiss waren, dann nahmen sie faustgroße Kieselsteine aus ihren Einkaufstaschen und warfen sie in rascher Folge gegen die Schaufenster eines Herrenbekleidungsgeschäfts. Der erste Stein prallte an einer gusseisernen Strebe ab, beim zweiten zersplitterte das Schaufenster links neben der gläsernen Eingangstür, beim dritten jenes rechts davon, beim vierten die Tür selbst. Bevor aber der fünfte Stein geworfen werden konnte, tauchten wie aus dem Nichts sieben Polizisten auf und knüppelten auf die zwei Frauen ein, bis sie bewusstlos mit blutenden Köpfen auf dem Gehsteig lagen. Dann packten sie sie an Händen und Füßen und warfen sie in den heranrollenden Gefängniswagen, schleuderten das Schild und die Handtaschen hinterher, stiegen ein und waren auch schon verschwunden. Der ganze Spuk dauerte keine halbe Minute. Zurück blieben zwei kleine Blutflecken an der Stelle, an der die Frauen auf dem Gehsteig gelegen hatten.
Geoffrey Spicer Simson stand da in sprachlosem Entsetzen. Er kauerte sich nieder zu den Blutflecken, stand auf, machte zwei Schritte nach rechts und nach links, blieb stehen und schaute seine Freunde und seine Frau hilfesuchend an.
«Suffragetten», sagte Hother McCormick Hanschell.
«Sie kämpfen fürs Frauenstimmrecht», sagte Shirley Hanschell.
«Komm, Geoffrey», sagte Amy und nahm ihn am Arm.
«Das waren Ladies», sagte Spicer. «Seit wann knüppeln Londoner Polizisten Ladies nieder?»
«Seit einer ganzen Weile», sagte Hanschell. «Die Fronten verhärten
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