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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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würde, auf die er ein Leben lang stolz sein könnte. Denn es ließ sich nicht leugnen, dass er in kürzester Zeit und gegen seinen Willen zum Sklavenhalter und Nutznießer von Prostitution und Ehebruch geworden war. Natürlich war er nicht persönlich verantwortlich für die pragmatische Menage des jungen Wendt, auch nicht für den weinerlichen Sadismus des Gouverneurs Schnee oder die Brutalität der Askari, und gewiss wäre es ganz aussichtslos gewesen, wenn Rüter allein gegen die Macht der Umstände angegangen wäre; trotzdem lebte er Tag und Nacht in der Empfindung, dass er sich durch seine bloße Anwesenheit mitschuldig machte, und dass daran in den Monaten, die ihm in Afrika noch verblieben, nichts mehr zu ändern sein würde. Längst hatte er eingesehen, dass auch diese Werft nicht seine Werft war, und dass die Werkzeuge nicht seine Werkzeuge waren, und dass die Arbeiter nicht seinem Befehl, sondern jenem der Soldaten unterstellt waren, und dass die Götzen nicht sein Schiff war, sondern irgendein Schiff, das zu bauen man ihm befohlen hatte. Oh, er würde das Schiff schon bauen, und es würde das beste und schönste Schiff ganz Afrikas werden.
    Aber dann, so viel war sicher, würde er auf dem schnellsten Weg heimkehren nach Papenburg.
    Auch Teilmann fand nicht mehr zum Seelenfrieden der frühen Tage zurück. Er erschien zuverlässig zur Arbeit und zum gemeinsamen Abendessen, lebte aber im Übrigen still und in sich gekehrt und sprach kaum ein Wort; nur mit seinem Gepardenweibchen Veronika hielt er lange Zwiesprache, kraulte dessen Hinterkopf und flüsterte ihm die albernsten Zärtlichkeiten in vielfacher Wiederholung ins gefiederte Ohr. Als Einziger ertrug er es nicht, dass das Hutzelweib bei ihm sauber machte; fünfmal hatte sie seine Festung zu erobern versucht, und fünfmal hatte er ihren Spottreden widerstanden, den Kampf um den Besen gewonnen und die Frau in die Flucht geschlagen. Hinter seinem Haus hatte er einen kleinen Garten angelegt und Samen und Setzlinge gepflanzt, die er aus Papenburg mitgebracht hatte: eine Reihe Kartoffelstauden, eine Reihe Möhren, Bohnen, Kürbisse. Zwei oder drei Mal hatte er es auch mit Kopfsalat versucht, aber die Setzlinge waren immer gleich in der ersten Nacht von unbekannten Räubern restlos aufgefressen worden. Wenn Möhren oder Bohnen erntereif waren, trug er sie hinunter in Wendt’s Biergarten und überreichte sie mit verschämtem Stolz Samblakira, und diese bereitete das Gemüse an Ort und Stelle zu.
    Sonntags ging er jetzt immer in aller Frühe zur Jagd, lief mit seinem Gepardenweibchen hinaus in die Steppe und setzte sich an einem verschwiegenen Plätzchen hin, legte das Gewehr in den Schoß, kratzte sich gedankenvoll am Hals und stellte sich vor, was daheim in Papenburg in jenem Augenblick wohl geschehen mochte. Wenn es bei ihm halb acht Uhr früh war, war es in Ostfriesland halb sieben. Bald würde seine Frau aufstehen, das Feuer im Herd schüren und draußen am Brunnen einen Eimer Wasser holen. Dann würde Veronika, seine Älteste, sich die weißen Daunenfedern aus dem schwarzen Haar bürsten, und die drei Jüngeren, die sich die hinterste Kammer neben dem Holzschopf teilten, würden nacheinander aufwachen und barfuß und mit verklebten Augen in der Küche auftauchen. Derweil saß Tellmann irgendwo in Afrika auf einem Termitenhügel, blinzelte ins goldene Licht des beginnenden Tages und nahm sich vor, seiner Frau einen langen Brief zu schreiben, sobald er von der Jagd zurückgekehrt wäre. Er würde ihr schöne Dinge schreiben, über die sie sich freute, und sie würde seinen Brief in der Schürze verwahren und immer wieder hervornehmen und lesen, bis er ganz zerfleddert wäre. Nur über die schönen Dinge würde er ihr schreiben und alles Unerfreuliche, Hässliche und Gemeine beiseite lassen. Er würde ihr Briefe schreiben, die sie von Anfang bis Ende den Kindern vorlesen konnte, und die Kinder würden die Briefe immer vor dem Schlafengehen hören wollen, und anderntags würden sie in der Schule mit den Abenteuern ihres Vaters prahlen.
    «Meine liebe Frau!», schrieb er ihr beispielsweise in Gedanken, während am Horizont eine Herde Giraffen vorbeizog. «Das Lustigste hier sind die Kassuka, jene grauen Papageien mit den roten Schwänzen, die jeden Tag zu vielen Hunderten aus den Urwäldern des Kongo über den Tanganikasee hergeflogen kommen. Nun musst Du wissen, dass diese Vögel zuweilen von den Einheimischen eingefangen und zum Kauf angeboten werden, denn

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