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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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zarte, blasse Pastelltöne vor. Wenn nach einem Gewitterregen die Sonne zurückkehrte, lag in der Luft grüngoldenes Licht und ein herrlicher Duft von nassem Kopfsteinpflaster und frischem Pferdedung – aber der hatte doch nie die betäubende Würze, die in den Tropen allgegenwärtig ist. Als äußerst angenehm empfanden es die Spicers auch, nicht dauernd von Moskitos gestochen zu werden, und dass es im Hyde Park keine Hyänen gab und man sich am Ufer der Themse nicht vor Krokodilen in acht nehmen musste, und dass einem, wenn man abends unter einer Straßenlaterne stehen blieb und sich die Schuhe band, keine handtellergroßen Falter ins Gesicht schlugen.
    Nachmittags zog Spicer seine Paradeuniform an, die er seit vier Jahren nicht mehr getragen hatte, und dann flanierte er mit Amy zu den weißen Prunkbauten am Piccadilly Circus, mitten hinein ins Epizentrum des britischen Weltreichs, dem sich Spicer noch immer mit jeder Faser seines Herzens zugehörig fühlte, trotz der bitteren beruflichen Zurückweisungen, die er im Dienst Seiner Majestät hatte hinnehmen müssen. Abends gingen sie weiter in die dahinter liegende Welt der großen und kleinen Theater, Musiksäle, Kabaretts und volkstümlichen Vaudevilles. Eine große Entdeckung waren für Spicer, der viel Sinn fürs Drama hatte, die neuen Lichtspieltheater. Bei seiner Abreise nach Afrika hatte es in London kein einziges Kino gegeben, jetzt waren es zweihundertsechsundsechzig. Spicer ging unersättlich gern ins Kino, begeisterte sich an griechischen Tragödien genauso wie an Cowboy-und Historienfilmen oder Liebesdramen. Rasch wurde er Stammgast im Electric Cinema an der Portobello Road und im Windmill Theatre in Soho.
    Im Großen und Ganzen, darin waren Amy und Spicer einig, war London sich treu geblieben. Der Big Ben klang in alter Schwermut und Großartigkeit; wie eh und je blies an kühlen Tagen der Wind den schwarzen Kohlerauch von den Kaminen und drückte ihn hinunter in die engen, spärlich beleuchteten Gassen. Die Wachablösung vor dem Buckingham Palace fand immer noch täglich um halb zwölf Uhr statt, und in den Pubs war der Preis für ein Pint Guinness unverändert, und Frauen hatten noch immer keinen Zutritt. Und dann waren da die vertrauten, lang vermissten Lebensmittel: Marmite, Gentleman’s Relish, Golden Syrup. Einiges aber hatte sich doch sehr verändert. In den Straßen gab es kaum noch Pferdekutschen, hingegen sehr viel mehr Automobile, und auch die Pferdeomnibusse waren doppelstöckigen Motorbussen gewichen. In den Amtsstuben hing nicht mehr das Porträt König Eduards VII. sondern jenes seines Sohnes George V. und vor dem Buckingham Palace stand eine riesige Statue Königin Victorias, der Großmutter des aktuellen Königs. Im nördlichen Vorort Hendon war eine Start-und Landebahn für Flugzeuge eingerichtet worden, weshalb fast jeden Tag ein Flugzeug über die Stadt hinwegdröhnte, manchmal sogar zwei oder drei. Die Central Line der U-Bahn war von Bank bis Liverpool Street verlängert worden, und in den feinen Geschäften an der Oxford Street, wo die Spicers sich endlich wieder mit frischer Leibwäsche eindecken konnten, waren die Preise erheblich gestiegen.
    Am Freitag der zweiten Woche war der Heimkehrerurlaub vorbei. Frühmorgens schob die Zimmerwirtin einen braunen, grobfaserigen Umschlag unter der Tür durch, der das Wappen des Marineministeriums trug und einen Marschbefehl enthielt. Spicer wurde angewiesen, am Montag, 1. Juni 1914, im königlichen Hafen Ramsgate im äußersten Osten der Themsemündung seinen Dienst als zweiter Offizier an Bord der HMS Harrier anzutreten.
    Die Harrier gehörte zur Küstenwache und hatte im Wesentlichen den Auftrag, Zigaretten und Schnaps schmuggelnde Fischkutter aufzubringen. Das war nun noch nicht Spicers große, heroisch schöne Lebensaufgabe, für die ihm die Menschheit bis in alle Ewigkeit ein ehrendes Andenken bewahren würde. Aber immerhin hatte er auf einem blitzblanken Schiff Fuß gefasst, das fünfzig Meter lang und tausendfünfhundert Tonnen schwer und mit acht Kanonen bestückt war. Zwar war er noch nicht Kommandant an Bord, aber hundertfünfzig Mann mussten vor ihm salutieren, und er tuckerte nicht mehr über einen moderigen Dschungelfluss und hielt nach versunkenen Mangroven Ausschau, sondern tat Dienst vor den weißen Klippen von Dover und bewachte die Küste des mächtigsten Königreichs der Welt. Das war schon ein erheblicher Fortschritt.
    Sonderlich aufregend waren die Fahrten der Harrier

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