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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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sichtbar auf feindliche Kanonen und Maschinengewehre zusteuerten, die ihnen in wenigen Stunden die Gedärme zerfetzen, Arme und Beine abreißen, die Schädel zertrümmern konnten. Es schien Rüter, als würden diese Burschen, die seelenruhig Kekse knabberten, die sie vielleicht nicht mehr verdauen würden, schon tot auf ihren Bänken sitzen, und als würden sie nur der guten Ordnung halber noch zu den feindlichen Projektilen hinfahren, um sich die notwendigen tödlichen Verletzungen zuzuziehen. Er lauschte dem unerbittlichen Stampfen der Dampfmaschine, die wieder einwandfrei funktionierte, seit Wendt das Loch im Kessel geflickt hatte, und dem Surren der Schraubenwelle, die er eigenhändig ausgewuchtet hatte. Die Wissmann leckte kaum mehr und lag nun, da das Gewicht geringer und besser verteilt war, recht gut im Wasser. Mit grimmiger Zufriedenheit stellte Rüter fest, dass er ein gutes Werkzeug in der Hand des Unglücks gewesen war. Die Wissmann würde das feindliche Ufer zweifellos ohne Zwischenfall erreichen; aus technischer Sicht gab es kein Hindernis mehr für das Blutbad, das ohne ihn nicht hätte stattfinden können.
    Mit der Wissmann selbst hatte er sich ausgesöhnt. Es war nicht wahr, dass sie das beschissenste Schiff Afrikas war. Es war nicht ihre Schuld, dass sie siebzehn Jahre lang nie ins Trockendock genommen worden war, und es war nicht ihr Fehler, dass sie nur anderthalb Meter Tiefgang und einen viel zu kurzen Rumpf hatte, und dass ihre Stahlwände nur drei Millimeter stark waren und von jeder Pistolenkugel durchschlagen werden konnten. Wenn man die Wissmann unvoreingenommen betrachtete, war sie ein hübsches kleines Schiffchen, laut Messingplakette am Kessel 1897 erbaut von Jansen & Schmilinsky in Hamburg, und bestens geeignet als Ausflugsdampfer auf der Alster oder am Titisee. Wahrscheinlich hatten Jansen & Schmilinsky nicht gewusst, dass es auf dem Tanganikasee, der tief eingeschnitten zwischen zwei steil ansteigenden Gebirgszügen liegt, schwere Stürme gibt, die sich oft in der schmalen Felsgasse verfangen und einen gewaltigen Seegang verursachen, und sie hatten auch nicht vorhersehen können, dass die Wissmann viele Jahre von kolonialen Landratten malträtiert werden würde, und dass man sie zu guter Letzt mit tonnenschwerer Artillerie beladen und, da schon wieder die Kohle ausgegangen war, mit grünem Holz befeuern würde. Wenn man all das in Rechnung stellte, schlug sich das alte kleine Schiff sehr tapfer.
    Anton Rüter bediente die Feuerluke und gab acht auf den Dampfdruck, während vor und hinter ihm zwei Askari an den Lenzpumpen standen. Noch war es nahezu windstill und der See spiegelglatt. Die Wissmann torkelte ein wenig, lag für ihre Verhältnisse aber ruhig im Wasser und machte beinahe fünf Knoten Fahrt. Nach Sonnenaufgang würden sich die Felswände an den Bergen erhitzen und kräftige Steigwinde verursachen, und am Nachmittag würde der See rau werden, und die Askari an den Pumpen würden alle Hände voll zu tun haben, das Schiff lenz zu halten.
    Über der Treppe zur Kommandobrücke konnte Anton Rüter den Rücken des kommandierenden Offiziers, Oberleutnant zur See Moritz Horn, sehen. Einsam und aufrecht stand er am Steuerrad, mahlte auf den Backenzähnen und starrte durchs Fernglas geradeaus in die Richtung, in der bald die Küste Belgisch-Kongos auftauchen musste. Ein Schwarm Papageien zog über das Schiff hinweg. Fliegende Fische sprangen aus dem Wasser. Im Osten war der See rosa, im Westen hellblau. Ein Kormoran zog hoch oben seine Kreise, ging zum Sinkflug über und landete auf dem Sonnensegel der Wissmann, um ein Stück mitzufahren. Die Soldaten tranken Tee. Die Welt war fröhlich an jenem Morgen. Rüter versuchte sich einzureden, dass noch nicht alles verloren sei. Je länger die Fahrt dauerte, desto unwahrscheinlicher schien ihm, dass inmitten dieser allumfassenden Unschuld gleich der Weltkrieg ausbrechen werde. Vielleicht würde es gar nicht zum Kampf kommen. Vielleicht wussten die Belgier noch nicht, dass Krieg war. Vielleicht würden sie die Delcommune kampflos hergeben. Und falls sie doch Bescheid wussten, konnte man hoffen, dass sie noch keine Kanonen herbeigeschafft hatten. Vielleicht war die Delcommune ja spurlos verschwunden, hatte sich irgendwo in Sicherheit gebracht auf dem siebenhundert Kilometer langen See. Vielleicht gab es am belgischen Ufer noch keine Küstenbatterien, die den See über viele Kilometer hinaus mit Tod und Verderben überziehen konnten, und

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