Eine Frage der Zeit
dreißig Metern Abstand in der Mitte des Flusses. Wer sich an Bord der Toutou befindet, ist nicht zu erkennen. Auf der Mimi sitzt im Heck Amy Spicer Simson. Sie trägt ein weißes Sommerkleid und einen breitkrempigen Strohhut, hat die Hände in den Schoß gelegt und wendet das Gesicht der Morgensonne zu; das Maschinengewehr zu ihrer Rechten beachtet sie nicht. Zu ihrer Linken steht in brandneuer Khakiuniform Commander Spicer Simson. Eine Reihe weiter vorn sitzen mittschiffs die zwei Werfteigentümer John und Thomas Thornycroft lässig backbord und steuerbord auf dem Bootsrand. Am Steuerrad steht ein unbekannter Zivilist, vielleicht ein Mechaniker der Werft, und neben ihm Admiral Davis. An der Dreipfundkanone vorne auf der Back schließlich posiert ein junger Leutnant namens Cross. Wie es scheint, sind die Ausflügler bester Laune. Eine leichte Brise kräuselt das Wasser, die Morgensonne wirft scharfe Schatten. Gleich wird Mimi aus dem Blickfeld der Kamera verschwinden, und dann auch Toutou. Soweit bekannt, hält keine Photographie den Augenblick fest, da Leutnant Cross seinen Probeschuss auf den ausgedienten Werftschuppen abfeuerte – und das ist schade, denn auch dieses Manöver war gekennzeichnet von jener bizarren Note, die Spicers sämtlichen Taten eigen war. Immerhin gibt es schriftliche Berichte, denen zufolge der Schuss ein Volltreffer war. Während aber das Projektil ins Ziel fand und der windschiefe Schuppen in Flammen aufging, wurde Leutnant Cross vom Rückschlag samt Kanone in der entgegengesetzten Richtung über Bord geschleudert. Wie sich herausstellen sollte, war der messingne Verschlussring am Sockel der Lafette nicht korrekt verriegelt worden. Glücklicherweise war die Themse an jener Stelle nicht sehr tief. Der Bordschütze und sein Dreipfünder konnten ohne Schwierigkeiten unbeschädigt geborgen werden.
12
Ach Rudi, verdammter Mist
Der Tag, an dem es dem Nieter Rudolf Teilmann die Sprache verschlug, war der 7. Oktober 1914. Vom frühen Morgen an hatte er für sich allein an der Götzen gearbeitet, hatte auf dem Hauptdeck in Relingflucht Eisenstützen und Stangen vernietet und darüber den Handlauf aus Mahagoni geschraubt, und seine Gepardin Veronika hatte ihm dabei zugeschaut. Mittags hatte sie an seiner Seite ihren Anteil am Rind gefressen, das die Massai am Strand für die Werftarbeiter brieten, und nachmittags hatte sie im Schatten des Schiffsrumpfs gedöst; zwischendurch war sie aufgewacht und hatte in die Sonne geblinzelt, ihr gepunktetes Fell geleckt und mit ihren rosa gepolsterten Vorderpfoten Fliegen zu fangen versucht.
Die Götzen war zu drei Vierteln fertiggestellt. Knapp elf Monate waren vergangen seit der Schiffstaufe in Papenburg, und acht Monate seit der Ankunft am Tanganikasee. Nun stand das Schiff wieder in seiner ganzen Pracht auf der Helling, die großen Arbeiten waren abgeschlossen. Was jetzt noch zu erledigen war – die Deckaufbauten, die technischen Installationen, die Inneneinrichtung – würde zwei Monate in Anspruch nehmen, höchstens drei. Bisher war nichts kaputtgegangen, niemand hatte sich verletzt, nichts war gestohlen worden. Gemessen am ursprünglichen Zeitplan war Anton Rüter zwar drei bis vier Monate in Rückstand geraten; aber zuhause in Papenburg hatte er eben noch nicht wissen können, dass am Äquator ein Arbeitstag nicht zwölf, sondern höchstens neun Stunden dauerte, weil es erstens nur zwölf Stunden hell war und zweitens die heiße Mittagssonne auch den fleißigsten Papenburger Schiffbauer zu zwei bis drei Stunden Mittagsschlaf zwang, und ebenso wenig hatte er ahnen können, dass es während der häufigen, oft tagelangen Wolkenbrüche sinnlos war, überhaupt nur einen Fuß vor die Tür zu setzen; und nicht vorauszusehen war schließlich gewesen, dass lang vor dem Stapellauf ein ziemlich zeitraubender Weltkrieg ausbrechen würde.
Als Rudolf Tellmann an jenem 7. Oktober kurz vor sechs Uhr Feierabend machte und vom Schiff herunterstieg, war Veronika nicht mehr da.
Sie war weg. Verschwunden.
In der ersten Sekunde wunderte er sich, in der zweiten war er in Sorge, und von der dritten Sekunde an in höchstem Grade alarmiert. Noch nie hatte Veronika sich außer Sichtweite von ihm entfernt, geschweige denn, dass sie ausgerissen wäre. Er rief ihren Namen, er pfiff und schrie und klatschte in die Hände, umkreiste den Schiffsrumpf, kehrte zurück aufs Schiff und durchsuchte sämtliche Kabinen, hielt Nachschau im Kettengatt, im
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