Eine Frage der Zeit
über Kigoma gerieten ins Rutschen, klaffende Erdspalten öffneten sich auf den Wiesen, und in den Spalten zerrissen mit lautem Knall die Wurzeln der Bäume, die für den Eisenbahnbau gefällt worden waren. Menschen sah man nur selten. Die schwere, schwüle Luft war kaum zu atmen und auch am hellen Tag von Moskitoschwärmen erfüllt. Ab und zu huschte eine Menschengestalt von einem Haus zum nächsten. Manchmal stieg jemand aufs Dach, um ein Loch im Blätterwerk zu decken. Gelegentlich trieb einer seine Rinderherde von einem Gehege zum anderen. Wege und Straßen versumpften und wurden unpassierbar. Was jenseits der Berge in der weiten Welt geschah, wusste man nicht, da die Telegraphenleitung unterbrochen war. Auch die Eisenbahn fuhr nicht mehr, wahrscheinlich wegen eines Erdrutsches oder eines umgestürzten Baumes. Nur die Soldaten setzten ihre Patrouillenfahrten mit der Hedwig von Wissmann auf dem Tanganikasee fort.
Die Götzen lag auf der Helling, als würde sie die Sintflut erwarten. Der Regen prasselte aufs Deck und auf die Aufbauten, und das Getrommel dröhnte und hallte im Bauch des Schiffes, wo es dunkel, heiß und feucht war und hunderttausend Stechmücken Zuflucht vor dem Regen gefunden hatten. In dieser luftlosen Finsternis arbeiteten Anton Rüter und Hermann Wendt im Licht von Petroleumlampen. Sie verlegten Dampfrohre und elektrische Leitungen. Die großen, aufwendigen Arbeiten waren abgeschlossen, sie waren nun oft allein auf der Werft. Die zweihundert Hilfsarbeiter, für die es keine Beschäftigung mehr gab, hatte Rüter entlöhnen und nach Hause entlassen wollen; aber Kapitänleutnant von Zimmer hatte auf Erfüllung ihrer mehrjährigen Arbeitsverträge bestanden und die Arbeiter umgehend als Träger für die Schutztruppe verpflichtet. Nur mit Mühe hatte Rüter den Kapitänleutnant dazu bewegen können, wenigstens den zwölf Massai die Freiheit zurückzugeben und ihm die zwei Bantumänner Mkwawa und Kahigi, zu denen er während der langen Abende in Wendt’s Biergarten eine herzliche Zuneigung entwickelt hatte, als Handlanger auf der Werft zu belassen.
In jenen Tagen wurde Anton Rüter erstmals krank. Es begann damit, dass er keinen Appetit mehr hatte und sich in zunehmendem Maß schwach und gliederschwer fühlte. Dann fing ihm der Schädel an zu brummen und zu glühen, und seine Körpertemperatur stieg auf über vierzig Grad. Nachts fand er keinen Schlaf, weil es unter dem Netz vor stickiger Schwüle ebenso wenig auszuhalten war wie außerhalb, wo sich die Moskitos wie toll gebärdeten. Er wälzte sich nackt auf seiner Bettstatt aus Zebralederstreifen und horchte in die drohend schweigende Nacht hinaus, zündete die Laterne an und nahm ein Buch unters Netz, um sich die langen Stunden bis zum Morgengrauen zu verkürzen, aber der Kopf war dumpf, und die Hände zitterten, und die Schrift verschwamm hinter undeutlichen Gedanken, die unaufhaltsam dorthin glitten, wo er nicht war: nach Papenburg, zu seiner Frau und seinen Kindern. Und wenn er dann fiebernd und schwitzend endlich einschlief, um tage-und nächtelang nicht mehr zu Bewusstsein zu gelangen, wurde er heimgesucht von Albträumen und Visionen, die ihn mal hinaus in die schwärzesten Tiefen des Universums, dann hinein zum weiß glühenden Mittelpunkt der Erde katapultierten. In seinen lichten Augenblicken sah er Samblakira, die ihm die Stirn abwischte, Brei einlöffelte und dazu «Kula, kula» brummte, und in der nächsten Sekunde befand er sich wieder auf einem Höllenritt durch Kanonendonner, Pulverdampf und spritzendes Blut. Dann stand er auf dem Kasernenhof und exerzierte in der Mittagshitze bis zum Umfallen, die Götzen war aus Papier und brannte lichterloh, und Kapitänleutnant von Zimmer schnitt sich seine Zebrahaut eigenhändig streifenweise vom Leib. Nächtelang hockten Rüter schwarze Spinnen im Gesicht, tagelang krochen rote Ameisen auf ihm herum – und nach zwei Wochen war alles vorbei. Seine Stirn war wieder kühl, der Blick klar. Anton Rüter stand auf, trank einen starken Kaffee und schleppte sich, noch ein wenig wacklig auf den Beinen, hinunter zur Werft, wo er von den wachhabenden Askari erfuhr, dass Wendt ebenfalls vom Fieber niedergestreckt worden war.
Der verstummte Rudolf Tellmann tauchte, da das Nieten nun beendet war, kaum mehr bei der Götzen auf, sondern blieb in der Kaserne. Er trug nun immer Uniform und tat klaglos Dienst bei der Truppe, und in seiner freien Zeit besserte er Mauerwerk aus, kümmerte sich um die Wartung
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