Eine Frage der Zeit
Tageslicht zu befördern; aber wenn er nicht das Gesicht und seine Autorität als Kommandant verlieren wollte, würde er seine Drohung wahr machen müssen, und deshalb würde an zwölf Tagen hintereinander mit uhrwerkhafter Unausweichlichkeit zwölf Unglücklichen die Rückenhaut zerfetzt und die Muskulatur zu Brei geschlagen, dass das Blut in weitem Umkreis spritzte und schwarz im roten Staub versickerte, und die Schmerzensschreie der Gemarterten würden jeden Mittag kilometerweit zu hören sein. Zwölf Tage lang würde er diese Prozedur öffentlich aufführen müssen, zwölf Tage lang würde man in Kigoma von nichts anderem mehr reden, und zwölf Tage lang würden die Einheimischen klatschen und tratschen und zischeln, und ihr versteckter Unmut gegen ihn, den Kapitänleutnant, würde sich zu offenem Trotz und Zorn und schließlich zu lautstarker Empörung steigern, und von da wäre es nicht mehr weit bis zur gewalttätigen Revolte, die ihn leicht das Leben kosten konnte. Die Nilpferdpeitsche waren die Leute zwar gewöhnt – nicht aber deren Einsatz zwecks methodischer, wochenlang voraussehbarer Folter. Der Kapitänleutnant ahnte, dass das weder die Weißen noch die Schwarzen hinnehmen würden. Eine Meuterei unter seinen Offizieren aber, ein Werftarbeiterstreik oder ein Eingeborenenaufstand war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Vielleicht hatte er tatsächlich einen Fehler gemacht.
Lang vor dem Morgengrauen lag er wach und kämpfte gegen den Drang, mit der Laterne hinauszugehen und nachzuschauen, ob der Generator schon vor dem Tor stand. Er blieb liegen und zwang sich, nicht dauernd nach der Uhrzeit zu sehen, und wenn er nach Ewigkeiten die Kerze anzündete und seine Taschenuhr aus der Uniformjacke zog, waren doch stets nur ein paar Minuten vergangen. Immer wieder bildete er sich ein, dass es allmählich hell werde, weil die Umrisse des Klappstuhls, des Schranks und des Fensterkreuzes doch unbestreitbar deutlicher zu erkennen seien als eben gerade noch; aber dann war es immer erst viertel nach zwei oder fünf vor drei oder halb vier Uhr, und die Nacht dauerte noch Stunden. Dann tat der Kapitänleutnant einen langen Zug aus der Wasserflasche, kühlte sich das Gesicht mit einem feuchten Tuch und dirigierte im Geiste, um seine kreiselnden Gedanken zum Stillstand zu bringen, das Alt-Solo aus Gustav Mahlers Dritter Symphonie.
Als dann endlich der Hahn krähte, schlief er wie zu tiefster Mitternacht. Er schlief, während draußen auf der Wehrmauer die wachhabenden Askari ins erste Licht des beginnenden Tages hinausstarrten, und er schlief auch noch, als zwischen den Wachtürmen aufgeregte Rufe hin und her flogen und eiliges Getrappel über den Wehrgang dröhnte, und er erwachte erst aus tiefem Traum, als schnaufend und prustend Korporal Schäffler vor seinem Feldbett stand. «Herr Kapitänleutnant!», keuchte er und deutete mit ausgestrecktem Arm zur Tür. «Der Generator! Rasch!»
Der Generator stand – augenscheinlich unversehrt – draußen auf der Straße, und zwar derart nah am Tor und zwischen den beiden Wachttürmen, dass es ein Hohn war. Genau genommen stand er nicht am Tor, sondern lehnte in dessen Mitte an den Eichenbohlen. Als die Wachen auf Befehl von Zimmers die Flügeltüren öffneten, kippte er um und fiel dem Kapitänleutnant mit dem ganzen Gewicht seiner tausendzweihundert Kilogramm krachend vor die Füße. Der Kapitänleutnant wich ein paar Schritte zurück und spähte durch die Staubwolke, ob draußen vor dem Tor sonst noch etwas zu sehen sei. Und da war etwas: Mitten auf dem Gehweg lag eine preußische Pickelhaube. Von Zimmer winkte zwei Askari zu sich und trat vorsichtig hinaus. Von Nahem erkannte er die Pickelhaube – es war seine eigene, die ihm vor einigen Monaten abhanden gekommen war. Sie steckte mit der Spitze nach unten in der Erde, und sie war gestrichen voll mit menschlichen Exkrementen.
Kapitänleutnant von Zimmer war heilfroh, mit seiner erpresserischen Strafmaßnahme, vorläufig wenigstens, so glimpflich davongekommen zu sein. Er ließ die zwölf Gefangenen laufen und gab, um die Besiegten milder zu stimmen, jedem von ihnen eine Ananas und ein Säckchen Reis als Proviant mit auf den Weg. Dann befahl er Korporal Schäffler, den Generator auf einem Karren zur Werft zu schaffen und sich den Empfang von Anton Rüter persönlich quittieren zu lassen.
Die beschmutzte Pickelhaube ließ er ohne Aufheben in den See werfen. Es war ihm klar, dass er sie als Prophezeiung späterer
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