Eine Frage der Zeit
Rache zu verstehen hatte, und dass in nächster Zeit sein gefährlichster Feind nicht hinter den Bergen oder jenseits des Sees lauerte, sondern hier in Kigoma, vielleicht sogar im Innern der Kaserne. Er beschloss, sich für eine Weile unsichtbar zu machen und auf Blockadefahrt ans belgische Ufer zu gehen, und brach gleichentags auf. Mit an Bord waren fünfundzwanzig Askari und sieben Offiziere, aber kein Maschinist. Die Wissmann war jetzt in ziemlich gutem Zustand und würde wohl ein paar Tage pannenfrei durchhalten, und die drei zimperlichen Papenburger wollte sich der Kapitänleutnant in nächster Zeit lieber vom Leib halten.
Wie in Gustav von Zimmers Rapporten nachzulesen ist, nutzte die Besatzung der Wissmann diese Blockadefahrten, um am feindlichen Ufer Ruderboote zu sprengen, kilometerweise Telegraphendraht zu stehlen und sich auf Scharmützel mit belgischen Geschützstellungen einzulassen, bei denen aber kaum je Menschen zu Schaden kamen. Manche Fahrten führten geradewegs nach Westen ans gegenüberliegende Ufer, andere über viele hundert Kilometer ans südliche Ende des Sees.
Tage-und wochenlang fuhr die Wissmann ohne die geringste Feindberührung die Küste entlang und kämpfte mit dem Südwind, der besonders nachmittags kräftig übers Wasser blies. Jeden Abend musste man an Land gehen und Brennholz für den folgenden Tag schlagen, und manchmal paddelten spätabends noch Eingeborene in ihren Einbäumen herbei, um ein paar Hühner oder ein Viertel Rind gegen eine Handvoll Kaurimuscheln oder ein halbes Dutzend Nägel zu tauschen.
Als die Wissmann nach Kigoma zurückkehrte, bot sich Kapitänleutnant von Zimmer bei der Einfahrt in den Hafen ein erhebender Anblick. Hinter der zur Hälfte zusammengebauten Kingani lag die Götzen auf der Helling, genauso wie seit vielen Monaten schon – aber jetzt quoll dichter, schwarzer Rauch aus ihrem Schornstein. Die Götzen stand unter Dampf, erstmals seit ihrer Taufe in Papenburg vor mehr als einem Jahr. Ihre zwei Schiffsschrauben drehten sich sachte in der Luft und glitzerten golden am schwarzen Rumpf, die Deckaufbauten waren leuchtend weiß, das Unterwasserschiff blutrot gestrichen, und am spitz zulaufenden, schroff in die Höhe steigenden Bug prangte beidseits in goldenen Lettern auf schwarzem Grund ihr Name: Götzen. Ganz zuvorderst auf der Back stand hoch erhobenen Hauptes und mit dem Rücken in Fahrtrichtung ein Mann. Der Mann war Anton Rüter. Er umklammerte mit beiden Händen steuerbord und backbord die Reling, als sei er auf großer Fahrt und müsste sich festhalten, oder als müsste er nicht sich, sondern das Schiff festhalten, das jeden Augenblick seitwärts ins Wasser zu rutschen drohte.
Kigoma, 22. Dezember 1914. Der Militärbefehlshaber Kigoma an den Kaiserlichen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika. Betrifft: Bewaffnung der Götzen. Dampfer Götzen kurz vor der Fertigstellung. Stapellauf vorgesehen 25. Januar. Gefechtsbereit, sobald Geschütze und zugehörige Munition hier eintreffen. Erbitte umgehende Lieferung gemäß Bestellung. Gezeichnet: Gustav von Zimmer, Kapitänleutnant zur See.
15
Für Gott und den König
So geschah es, dass Doktor Hother McCormick Hanschell, zweiunddreißig Jahre alt, verheiratet und praktizierender Oberarzt im Seemannshospital an den Royal Albert Docks, der zeitlebens Zivilist gewesen war und keinen einzigen Tag Militärdienst geleistet hatte, am 15. Juni 1915 in der Uniform eines Marineleutnants, die zwar unorthodoxerweise blaue statt rote Rangabzeichen aufwies, dafür aber maßgeschneidert war, als Teilnehmer einer streng geheimen Marineexpedition vor der prachtvollen gotisch-viktorianischen Fassade des Londoner St. Pancras-Bahnhofs aufmarschierte. Hanschell war der D ritt vorderste in einer Kolonne von achtundzwanzig Mann, und weil er keinerlei Erfahrung in militärischen Exerzitien hatte, gab er scharf acht, was seine Vordermänner taten. Als diese eine Vierteldrehung nach rechts machten und dazu übergingen, mit ihren schweren Stiefeln auf der Stelle zu treten, trat er mit seinen schweren Stiefeln ebenfalls auf der Stelle – dies unter den belustigten Blicken seiner Gattin Shirley, die in einer Ansammlung von Schaulustigen neben ihrer Freundin Amy Spicer Simson stand und nicht aufhören wollte, zu salutieren und ihm gänzlich unmilitärische Kusshände zuzuwerfen. Als die Soldaten sich in einer schnurgeraden Reihe ausrichteten und mit angewinkelten Ellbogen Distanz zueinander nahmen, tat er es
Weitere Kostenlose Bücher