Eine Frage der Zeit
Herr Kapitänleutnant.»
«Seien Sie nicht wehleidig, Rüter. Sie sind nicht der Einzige, der hier gelegentlich unpässlich ist. Von all meinen Offizieren sind zurzeit nur zwei fieberfrei. Wir haben Durchfall, Fieber, Würmer, Typhus, Schwarzwasser und die Schlafkrankheit, unsere Uniformen und unsere Betten sind voller Läuse, und wir haben unsere Frauen seit Jahren nicht mehr gesehen und wissen schon gar nicht mehr, wie Schwarzbrot schmeckt. Wir sind genau wie Sie seit Monaten vom Nachschub abgeschnitten und ohne Nachrichten von der Außenwelt. Es fehlt uns am Allernotwendigsten, was jede Armee unverzichtbar braucht, und dabei rede ich noch nicht einmal von Waffen und Munition, die uns sehr rasch ausgehen werden, wenn erst mal das Kämpfen losgeht. Ich rede beispielsweise von Socken, Rüter. Es fehlt uns an Socken. Du lieber Himmel, wir reißen den Negerweibern ihre knallbunten Baströcke vom Leib und stricken uns daraus Socken. Wir sind eine Armee mit knallbunten Negersocken, und wir warten auf einen Feind, von dem wir nicht einmal wissen, wo er steckt und ob es ihn überhaupt gibt… Glauben Sie im Ernst, dass hier noch irgendwer den Kurs bestimmt?»
«Sie haben das Kommando, Herr Kapitänleutnant. Sie haben soeben befohlen, dass man diese Männer an der Kette in den Staub reißt.»
«Jawohl, das habe ich. Und gleich werde ich den Befehl zum Auspeitschen geben.»
Von Zimmer machte erneut eine Handbewegung, worauf drei Askari vortraten, von denen der mittlere eine Nilpferdpeitsche in der Rechten hielt. Rüter schnellte hoch und wollte protestieren, aber der Kapitänleutnant packte ihn mit raschem Griff an der Schulter und zwang ihn, sich wieder hinzusetzen.
«Reißen Sie sich zusammen und hören Sie mir zu. Ich bilde mir doch nicht ein, dass ich hier mit meinem Kasperletheater den Krieg entscheide. Während in den Schützengräben und Granattrichtern an der Marne Hunderttausende junger Männer verrecken, tuckern wir über den See wie Vergnügungsreisende und spielen Verstecken mit belgischen Kasperlebooten. Glauben Sie bitte nicht, dass mir das Spaß macht. Ich bin seit zwanzig Jahren Marineoffizier und habe mir den Höhepunkt meiner Laufbahn anders vorgestellt.»
«Wenn das so ist, Herr Kapitänleutnant, befehlen Sie bitte…»
«Was ich am liebsten befehlen würde, ist Strandurlaub für alle. Wenn ich es nicht tue, so nur aus einem einzigen Grund: weil doch die winzig kleine Möglichkeit besteht, dass unser Kasperletheater eben nicht nur kindisch ist, sondern vielleicht doch der Weltgeschichte eine neue Wendung geben könnte.»
«Der Weltgeschichte, Kapitän?»
«Spotten Sie nicht.»
«Ich spotte nicht.»
«Jawohl, das tun Sie. Sie sind ein Spötter. Sie verspotten die Wissmann, Sie verspotten die Kingani und den braven Korporal Schäffler. Sie verspotten auch mich, Ihren Kommandanten, und wollen ums Verrecken nicht lernen, mich korrekt anzureden. Sie verspotten Gouverneur Schnee und Deutsch-Ostafrika, und wahrscheinlich verspotten Sie auch den Indischen Ozean und unseren Kaiser mit seinem verkrüppelten linken Arm. Ich kenne Sie, Typen wie Sie gibt es in jeder Kompanie. Leute Ihres Schlages leiden daran, dass die Welt ihren Ansprüchen nicht genügt, und deshalb verspotten sie sie und wollen nichts mit ihr zu schaffen haben.»
«Im Gegenteil, Herr Kapitänleutnant. Ich liebe sehr vieles auf der Welt. Ich liebe meine Frau und meine Kinder, und ich liebe meinen Beruf und bin stolz…»
«Ich weiß schon.» Von Zimmer winkte ab. «Sie lieben Ihre Familie, weil sie Ihr eigen Fleisch und Blut ist, und sie lieben die Götzen, weil sie Ihr Werk ist. Aber der arme Kahn muss dann gleich das größte, schönste und beste Schiff werden, das die Welt je gesehen hat, nicht wahr? Denn eitel sind Sie schon. Ich wünschte, Sie könnten mir gleichgültig sein, aber ich bin auf Sie angewiesen. Ich kann es mir nicht leisten, dass Sie mich sabotieren.»
«Das würde mir nie einfallen.»
«Heucheln Sie nicht, wir wollen offen reden. Sie würden mich jederzeit sabotieren, wenn es Ihnen nützlich wäre. Und mit der Götzen ist es in letzter Zeit verdammt langsam vorwärtsgegangen.»
«Es fehlen wichtige Teile, Herr Kapitänleutnant.»
«Sie würden alles tun, um Ihre Haut zu retten. Sie glauben, dass hier alles sinnlos ist, weil wir von der Welt abgeschnitten sind und auf verlorenem Posten stehen, und Sie wollen mit dem Krieg nichts zu schaffen haben und einfach nur heil davonkommen. Alles andere ist Ihnen
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