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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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dieses pompösen Gesellen nicht nur ertrug, sondern sie sogar suchte und nachgerade schätzte; bald aber war ihm aufgegangen, dass gerade dessen argloser Optimismus und kindlicher Tatendrang, sein naiver Idealismus ihm in der Seele gut taten. Natürlich war er ein vulgärer Aufschneider und ungehobelter Wichtigtuer – aber war dieser polternde Prahlhans letztlich nicht bescheidener und demütiger als er selbst, der kultivierte, ewig zögerliche und zaudernde Doktor, der sich selbst immerhin wichtig genug nahm, um eitel an der Sinnlosigkeit seines Daseins zu leiden?
    Der Doktor hatte sich selbst schon vor Jahren durchschaut. Sein Arztberuf war ihm vor langer Zeit – lange vor der Bekanntschaft mit Spicer – verdächtig geworden. An der Selbstlosigkeit seines Helfertums hatte er noch während des Studiums zu zweifeln begonnen, und die ostentative Menschenfreundlichkeit seines Berufsstandes hatte er seit je als hohl und aufgesetzt empfunden. Es war ihm peinlich, dass seine Patienten ihn als eine Art Heiligen sahen, der die Macht hatte, mit seinem Zauberstab über Leben und Tod zu entscheiden, was übrigens in groteskem Widerspruch stand zum Gefühl der Hilflosigkeit, mit dem er, der immerhin mit Auszeichnung in Cambridge promoviert hatte, an den allermeisten Krankenbetten stand. Oh, er sah sich nicht als Versager, denn er hatte als Arzt unbestreitbar seine täglichen Erfolge, wenn er gebrochene Knochen richtete, Fleischwunden nähte oder Abszesse aufschnitt; die große Mehrheit der Kranken aber litt an rätselhaften Infektionen und Geschwüren, mysteriösen Kreislaufstörungen, Koliken und Atembeschwerden, die er mit den Mitteln der zeitgenössischen Schulmedizin bestenfalls erkennen und benennen, aber nur selten auf ihre Ursache zurückführen und noch viel seltener mit rationalen Mitteln heilen konnte. So beschränkte sich Doktor Hanschells Alltag im Großen und Ganzen – das hatte er sich längst eingestanden – auf teilnehmende Beobachtung, freundlichen Zuspruch und viel Hokuspokus unter Einsatz seines weißen Arztkittels, des Stethoskops und einer breiten Palette bunter Placebo-Pillen. Auch was den Heilungserfolg betraf, machte er sich schon lange keine Illusionen mehr. Gewiss konnte er sich zugute halten, im Lauf seiner Karriere Hunderte von Patienten vor dem unmittelbaren Tod gerettet zu haben; ebenso gewiss aber war, dass ein großer Teil der vielen Tausende, die unter seinen Händen gesund geworden oder gestorben waren, dies mit exakt dem gleichen Erfolg auch zu Hause unter der Obhut ihrer Großmutter getan hätten.
    Die Expedition nach Afrika war für Doktor Hanschell deshalb ein Akt der Befreiung. Endlich würde er alle Zweifel und Sinnfragen hinter sich lassen und ein paar Monate seines Lebens einer Aufgabe widmen, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig ließ. Zwei Schiffe mussten nach Afrika zu einem See gebracht werden, und Hanschell hatte dafür zu sorgen, dass alle Expeditionsteilnehmer heil heimkehrten. Er würde sich den schlichten, jederzeit klaren Spielregeln militärischen Zusammenlebens unterwerfen, er würde laufen, schwitzen und ums Überleben kämpfen, und keine Sekunde würde er überlegen, ob das, was er tat, sinnvoll sei oder nicht. Hanschell hatte sich fest vorgenommen, der offenkundigen Absurdität des Unternehmens keinerlei Beachtung zu schenken. Er würde nicht den Kopf darüber schütteln, dass man zwei kleine Schiffe auf ein großes Schiff verlud und trockenen Kiels über sechstausend Seemeilen, also über ein Viertel des Erdumfangs, nach Kapstadt an die Südspitze Afrikas brachte, um sie anschließend in entgegengesetzter Richtung per Bahn wieder zweitausendsiebenhundert Meilen nordwärts zu verfrachten. Er würde nicht in Gelächter ausbrechen, wenn zwei Boote der königlichen Kriegsmarine weitab von jedem Gewässer über staubtrockenen Steppenboden geschleppt würden, und er würde keine moralischen Bedenken anmelden, wenn mitten in Afrika und ohne erkennbaren Anlass Briten, Belgier und Deutsche einander mit Spielzeugbooten zu Tode schossen. Doktor Hanschell war festen Willens, sich über nichts zu wundern. Er würde sein Bestes geben, damit sämtliche Expeditionsmitglieder gesund blieben, und ansonsten würde er sich keine unnützen Gedanken machen. Und vor allem würde er Spicers Empfehlung folgen und darauf verzichten, geistreiche Kommentare außerhalb seines ärztlichen Fachgebiets abzugeben.
    Nach nur zweiundzwanzig Meilen Eisenbahnfahrt aber, kurz nach der Ankunft im

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