Eine Frage der Zeit
ihnen nach. Und als alle die Hacken zusammenschlugen, das Kinn reckten und die Hände gegen die Hosennähte pressten, erfüllte Doktor Hanschell auch diese Pflicht nahezu vorschriftsgemäß und mit nur geringer Verzögerung. Dann hatte Commander Geoffrey Basil Spicer Simson seinen Auftritt. In feierlichem Ernst schritt er seine Truppe ab, reckte das Kinn und musterte aus schmalen Augenschlitzen jeden einzelnen Mann von oben bis unten, und als er am Ende der Reihe angelangt war, inspizierte er deren Kehrseiten. In seiner Rechten hielt er – ein unübliches Accessoire für einen Marineoffizier – eine schwarzlederne Reitpeitsche, mit der er sich im Takt seiner Schritte in die linke Handfläche schlug. Nach vollendeter Umrundung baute er sich vor der Truppe auf, schaute allen achtundzwanzig Mann nacheinander scharf in die Augen und sagte schließlich in verdrießlichem Ton, als sei er ihres Anblicks unsagbar müde: «Nun gut, Männer – wegtreten», worauf die Reihe sich auflöste. Hanschell und Spicer liefen nebeneinander zu ihren Frauen.
«Hier, bevor ich es vergesse!», rief Shirley und nahm ihren Operngucker aus der Handtasche. «Nimm den mit, man weiß nie.»
Hanschell nahm den Operngucker und steckte ihn in die Jackentasche, und dann drückte er Shirley fest an sich.
«Komm heil wieder, mein starker Krieger», sagte sie und küsste ihn lange. Dann verschwand er mit den anderen Soldaten unter den gotischen Spitzbögen des Bahnhofsgebäudes. Der Eilzug, der sie zum Hafen von Tilbury an der Themsemündung bringen würde, stand schon unter Dampf.
Die Fahrt dauerte fünfzig Minuten. Spicer Simsons Expeditionskorps hatte drei Abteile zweiter Klasse zugewiesen erhalten. Hanschell saß an einem Fensterplatz in Fahrtrichtung und betrachtete die vorbeiziehende sommerliche Vorstadtlandschaft. Ihm gegenüber saß gut gelaunt Commander Spicer und gab in beiläufigstem Plauderton zum Besten, dass er am Vortag noch bei König George V. zum Tee gewesen sei, da Seine Majestät aus erster Hand über die Expedition hatte informiert werden wollen. Natürlich sei ihm das mitten in den letzten Reisevorbereitungen äußerst ungelegen gekommen, aber er habe dem König ja schlecht einen Korb geben können. Doktor Hanschell mimte höflich Interesse und dachte derweil an Shirley, die nun eine ganze Weile ohne ihn würde auskommen müssen. Es beruhigte ihn, dass sie und Amy Spicer Simson beschlossen hatten, die Wartezeit gemeinsam zu verbringen. Sie würden die Zimmer am Russell Square aufgeben und nach dem südenglischen Badeort Swanage umziehen, wo Spicer eine hübsche Wohnung in der Newton Road angemietet hatte. Da sein Salär sich dank Auslands-und Funktionszulage verdoppelte, hatte er darauf bestanden, dass die beiden ihre Arbeitsstellen in der Munitionsfabrik kündigten. Und als die Frauen unter Verweis auf ihre patriotische Pflicht Protest einlegten, entgegnete Spicer näselnd, dass ein Staat, der seine Bürgerinnen auf offener Straße blutig schlagen lasse, vom weiblichen Geschlecht keinerlei Loyalität einzufordern habe.
Als Hanschell sich Shirley erstmals in Uniform präsentierte, hatte sie Tränen gelacht über die Maskerade, und keinen Augenblick hatte sie sich vorstellen können, dass sein Säbel wirklich scharf und die Pistole tatsächlich geladen sein könnte. Trotzdem hatte es seiner Eitelkeit gut getan, sich ihr als Soldat zu zeigen. Der Gedanke, dass sie ihn während seiner Abwesenheit in derart männlich-militärischer Aufmachung vor sich sehen würde, schmeichelte ihm sehr. Noch besser hätte ihm sein neuer Status als Soldat gefallen, wenn Shirley in den letzten Augenblicken des Abschieds ihre Komödie kurz unterbrochen und für eine Minute oder zwei die weinende Soldatengattin gegeben hätte.
Tatsächlich war der Doktor alles andere als ein Krieger, sondern ein höflicher und zurückhaltender Mann, ein kluger und einfühlsamer Arzt und ein freundlicher und sanfter, manchmal etwas abwesender Ehegatte. Hanschell war einer jener Menschen, für die es auf der Welt nicht sehr viele Gewissheiten gab. Er lebte im Bewusstsein, dass so ziemlich jede Entscheidung, die er im Leben traf, sich auf diese oder jene Art als falsch herausstellen würde, und er hatte sich längst damit abgefunden, dass alles, was der Mensch auf Erden wünschen, hoffen und unternehmen kann, über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt ist.
Zu Beginn seiner Freundschaft mit Spicer Simson hatte er sich darüber gewundert, dass er die Gesellschaft
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