Eine Frage der Zeit
tatsächlich im Begriff, ein paar Zeilen an meine Gattin zu verfassen. Da beugte er sich zu mir herunter, bis seine Stirn beinahe die meine berührte, und näselte gefährlich leise, mir müsse doch bekannt sein, dass unsere Expedition geheim sei, und dass er mich wegen Hochverrats vors Kriegsgericht bringe, wenn die Zensur auch nur das kleinste Schriftstück von meiner Hand abfange. Liebling, stell Dir bitte vor – Spicer kam mir mit Geheimhaltung, ausgerechnet er! Er, der seit Wochen in ganz London mit seiner geheimen Mission geprahlt hatte! Und als ich ihn im Namen unserer Freundschaft bat, Dir wenigstens ein kleines Telegramm schicken zu dürfen, um Dir den Grund meines Schweigens mitzuteilen, sagte er nur: «Auf Hochverrat, Leutnant Hanschell, steht die Todesstrafe. Wenn die Zensur Sie erwischt, sind Sie dran.» Das Risiko konnte ich nicht eingehen. Du kennst Spicer; er wäre tatsächlich imstande gewesen, mich vors Erschießungskommando zu bringen.
Tags darauf folgte das nächste Drama. Da ihm während der langen Nachmittagsstunden langweilig wurde, befahl er uns alle aufs Vordeck, wo Mimi stand, zu einer Lektion über Funktionsweise und Bedienung der Dieselmotoren.
Während Leutnant Cross die Abdeckplanen entfernte und sich über unseren Köpfen auf dem Promenadendeck ein Pulk von schaulustigen Passagieren bildete, steckte Spicer sich eine Zigarette an, worauf mehrere Zivilisten ebenfalls ihre Zigaretten aus den Brusttaschen holten. Das aber beobachtete von der Kommandobrücke aus der Kapitän der Lianstephen Castle, und er war damit gar nicht einverstanden. Während Leutnant Cross Mimis Dieselmotoren anwarf, stürmte der Kapitän hinunter aufs Promenadendeck, bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen und rief: «Zigaretten weg! Explosionsgefahr!», worauf wir unsere Zigaretten über die Reling schnipsten – alle außer Spicer, dem es sichtlich unangenehm war, dass es nebst ihm sonst noch jemanden gab, der anderen Leuten Befehle erteilte.
«Nonsense», näselte er. «Was soll denn hier explodieren?»
«Die Dieseltanks und die Motoren!», erwiderte der Kapitän. «Alles Rauchzeug wird sofort ausgemacht. Das gilt auch für Sie, Commander!»
Da breitete Spicer die Arme aus wie Jesus Christus bei der Bergpredigt, ließ einige Sekunden verstreichen und vergewisserte sich mit einem Blick in die Runde, dass aller Umstehenden Aufmerksamkeit auf seiner Person ruhte. Dann nahm er einen langen, selbstvergessenen Zug von seiner Zigarette, und während ihm der Rauch aus Mund und Nase strömte, sagte er im höchstmöglichen, näselndsten, zerdehntesten Singsang: «Sie vergreifen sich im Ton, mein lieber Kapitän, ist Ihnen das klar? Ich weiß, Sie meinen es gut und sind ein braver Handelskapitän. Aber ich, mein lieber Junge, bin Offizier der Royal Navy und als solcher jederzeit Ihr Vorgesetzter. In Kriegszeiten, und in solchen befinden wir uns leider, habe ich bekanntlich die Befugnis, bei Bedarf jedes zivile Schiff zu requirieren und meinem Kommando zu unterstellen, wann immer es mir gefällt.»
Das war natürlich Unsinn, aber es tat seine Wirkung. In den Sekunden ungläubigen Schweigens, die darauf folgten, machte er auf dem Absatz kehrt und lehnte sich über die Reling, sah verträumt hinaus auf den Ozean und zog genüsslich an seiner Zigarette, die übrigens in einem ziemlich langen Elfenbeinmundstück steckte. Und als man schon glaubte, dass er jedes Interesse am Kapitän und an Dieselmotoren verloren habe, sagte er über seine linke Schulter hinweg: «Denken Sie in Zukunft daran, Kapitän, ja? Lassen Sie es sich nicht noch einmal einfallen, mir Befehle zu erteilen. Für diesmal will ich ein Auge zudrücken, ich bin ja kein Unmensch.»
So ging das weiter. Du kannst Dir vorstellen, dass Spicers Ansehen – und das seiner Mannschaft – unter Auftritten dieser Art dramatisch rasch irreparablen Schaden nahm, beim Kapitän zuallererst, dann aber auch bei der Besatzung und den Passagieren. Bald rümpften die jungen Damen nur noch ihre vornehmen Näschen, wenn sie eine Marineuniform sahen, und die Kellner bedienten uns mit beleidigender Langsamkeit, und die Kinder liefen uns hinterher und leierten zotige Reime. Immerhin gelang es mir an einem der folgenden Abende, die Bekanntschaft eines netten, allein reisenden Herrn zu machen. Wir kamen ins Gespräch, weil wir in einer unbeleuchteten Ecke des Sonnendecks, ohne einander zu bemerken, sozusagen Schulter an Schulter den Sternenhimmel betrachteten. Als dann der
Weitere Kostenlose Bücher