Eine Frage der Zeit
Mitglied im Geschichtsverein und im Tennisverein Rot-Gold.
Elke Volkmer präsentierte in ihren Praxisräumen regelmäßig Werke moderner Maler und machte sich damit bei Kunstfreunden in der gesamten Pfalz und dem angrenzenden Lothringen einen Namen. Zu den Vernissagen erschienen regelmäßig zahlreiche Prominente aus der ganzen Region. Der Galerist Eric Linaud, mit dem Elke Volkmer dabei eng zusammenarbeitete, zeigte sich tief betroffen vom Tod der Medizinerin. Gegenüber dem Waldenthaler Morgenkurier sagte Linaud: „Ich war schockiert, als ich davon erfuhr. Sie war eine engagierte und kunstsinnige Frau.“
Katja las den Text noch zweimal durch, fand ihn zwar nicht brilliant, aber gut genug und gab ihn zum Druck frei. Es war noch nicht einmal halb sechs. Normalerweise wäre sie nicht auf die Idee gekommen, so früh schon Feierabend zu machen. Was soll’s, dachte sie. Velten hatte ihr den frühen Dienstschluss ja gewissermaßen verordnet, also konnte sie den Tag auch auf ihrem Balkon ausklingen lassen. Im Hinausgehen schnappte sie sich den Ordner mit den Rechercheergebnissen im Kunstraub-Fall. Vielleicht würde sie ja doch noch einmal hineinschauen. Der Tag war schließlich noch jung.
Keine zehn Minuten später saß sie in ihrem Wagen und fuhr die kurze Strecke bis zu ihrer Wohnung am Rand der Innenstadt. Das Gespräch mit Eric Linaud ging ihr nicht aus dem Kopf. Obwohl er fast ihr Vater sein könnte, fand sie ihn anziehend. Vielleicht waren es gerade die Widersprüche, die ihn so interessant machten. Auf der einen Seite war er ein Mensch, der ganz in seiner Arbeit aufging und sich für Künstler und ihre Werke begeistern konnte. Andererseits strahlte er eine seltsame Härte aus. Seine elegante Erscheinung, der sorgsam gestutzte Bart und die Narbe über seiner linken Wange ließen ihn wie einen der eleganten Freibeuter aus einem Hollywood-Film der fünfziger Jahre wirken. Ob sie seine Einladung zum Essen annehmen sollte? Der Gedanke war verlockend.
Sie erreichte nach kurzer Fahrt das dreistöckige Mehrparteienhaus, in dem sie für die Zeit ihrer Arbeit in Waldenthal eine kleine Wohnung gemietet hatte. Als sie ihre Wohnungstür aufschloss, schlug ihr eine Welle stickig-warmer Luft entgegen. Katja riss die Fenster in Wohnzimmer und Küche auf, doch mit einer spürbaren Abkühlung rechnete sie nicht. Wenige Minuten später stand sie unter der Dusche und genoss mit geschlossenen Augen, wie ihr der lauwarme Schauer über Genick und Schultern rieselte. Nach einer Weile drehte sie die Temperatur stufenweise herunter, bis das Wasser schließlich eiskalt auf sie einprasselte. Sie hielt das eine Minute aus, dann stieg sie völlig erfrischt aus der Dusche. Beim Abtrocknen bibberte sie vor Kälte und fand dieses Gefühl nach dem drückend heißen Tag auf eine verrückte Weise angenehm. Als sie in ein leichtes Sommerkleid schlüpfte, war es gerade sechs Uhr abends. In der Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite begannen die Glocken zu läuten. Katja fluchte leise. Sie stellte keine großen Ansprüche an ihre Wohnung, in der sie ja ohnehin nur ein paar Monate leben würde, doch das penetrante Geläute ging ihr gehörig auf die Nerven. Dreimal täglich erinnerte die katholische Gemeinde ihre Schäfchen mit infernalischem Gebimmel an ihre christlichen Pflichten. Da Katja nicht religiös war, empfand sie diese ungebetene Fürsorge von Mutter Kirche als unverschämte Ruhestörung.
Katja warf einen missbilligen Blick in Richtung Kirchturm. Die Zeiger der großen Uhr standen auf kurz nach sechs. Während sie das Fenster schloss, begann irgendwo in ihrem Hinterkopf ein Gedanke zu keimen. Er hatte mit der Uhr zu tun und er war irgendwie beunruhigend. Mehrere Sekunden lang versuchte sie vergeblich, die Idee zu fassen, doch immer wieder entschwand sie, verblasste fast ganz und tauchte doch wieder auf, konkreter und beängstigender als zuvor. Es war fast so, als würde sie nach dem Aufwachen versuchen, sich an einen Traum zu erinnern. Bilder und Erinnerungen tauchten aus ihrem Unterbewusstsein auf wie aus einem Nebel. Die Kirchturmuhr, der Mord an Alexander Stürmer, die Praxis von Elke Volkmer, die Gemälde, Marion Clarke. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Sie ging in ihrer Wohnung auf und ab. Konzentriere dich, befahl sich Katja selbst. Die merkwürdigen Assoziationen hatten begonnen, als die Glocken zu läuten anfingen und sie die Kirchturmuhr sah. Zeit, es ging um die Zeit. Hatte es etwas mit Stürmers
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