Eine Frage der Zeit
Nase. Während sie versuchte, sich dem Griff zu entwinden, sah sie aus den Augenwinkeln die andere Hand des Mannes und erkannte darin einen Lappen, von dem der Gestank ausging. Er versuchte, ihr den Stofffetzen auf den Mund zu pressen. Die Angst verlieh Katja ungeahnte Kräfte. Sie wehrte sich verzweifelt gegen den Angreifer und schaffte es, sich zu befreien. Dabei stürzte sie fast zu Boden und prallte gegen den schweren Deckenfluter, der neben ihrem Schreibtisch stand. Die Stehlampe stürzte um und schlug hart gegen das Fenster, das laut scheppernd zu Bruch ging. Katja prallte mit dem Kopf gegen den Schreibtisch und schrie auf. Schon war er wieder über ihr, schlang seinen linken Arm um ihren Hals und drückte ihr die Kehle so fest zu, dass sie kaum noch atmen konnte. Die junge Frau wehrte sich verzweifelt und versuchte, gleichzeitig nach Luft zu schnappen und dem Lappen mit der Chemikalie auszuweichen. Doch gegen den körperlich überlegenen Mann hatte sie keine Chance. Schwer atmend rang er sie nieder. Die Hand mit dem Stofffetzen presste sich auf ihren Mund. Ihr Verstand befahl ihr, die Dämpfe nicht einzuatmen, doch ihr Körper gierte nach Sauerstoff. Nach wenigen Sekunden war ihr Widerstand endgültig gebrochen. Ihre Lungen sogen das Betäubungsmittel ein. Es brannte wie Feuer in ihrem Hals und sofort tanzten bunte Sterne vor ihren Augen. Mit ihrem letzten klaren Gedanken erkannte Katja, dass auch sie dem Mann, der schon so viele Menschen auf dem Gewissen hatte, hilflos ausgeliefert war. Dann wurde alles schwarz.
- - -
Ein leichter Wind war aufgekommen und ein schwüler Luftzug auf seinem Gesicht weckte Velten auf. Er wusste nicht, wie lange er auf seinem Balkon geschlafen hatte. Es war unfassbar warm und seine Kleidung klebte ihm am Körper. Die verheißungsvollen dunkeln Wolken waren längst weiter gezogen und luden ihre nasse Fracht wahrscheinlich gerade woanders ab. Er verließ den Balkon und nahm eine kalte Dusche. Anschließend inspizierte er Kühlschrank und Eisfach und wollte sich eben zwischen einer Pizza und einem Steak entscheiden, als das Telefon klingelte. Er überlegte kurz, ob er es ignorieren sollte, hob dann aber doch den Hörer ab.
„Max, hier ist Susanne. Gut, dass ich dich zuhause erreiche. Ich habe es schon auf dem Handy versucht.“
Velten sah sich in der Wohnung um, konnte sein Mobiltelefon jedoch nirgendwo entdecken. „Wahrscheinlich liegt es noch im Auto. Was gibt’s denn?“
„Ich bin in der Wohnung von Katja Marcks. Sieht so aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden. Komm am besten schnell her.“
„Ist Marcks...“
„Sie ist nicht hier. Ich glaube, dass ihr etwas zugestoßen ist.“ Susannes Stimme klang alarmiert und ihre Besorgnis übertrug sich schlagartig auch auf Velten.
„Ich bin schon auf dem Weg. Wie ist die Adresse?“
„Pettenkoferstraße 38.“
Kurz darauf raste er in seinem Golf durch Waldenthal. Bis zur Wohnung von Marcks in der Nähe des städtischen Krankenhauses waren es nur wenige Kilometer, die ihm dennoch endlos vorkamen. Velten überfuhr zwei rote Ampeln und nahm etlichen Autos die Vorfahrt. Als er nach wenigen Minuten in die Pettenkoferstraße einbog, konnte er vor einem hellen Mehrparteienhaus einen Streifenwagen und Susannes Kombi erkennen. Er stellte seinen VW im Halteverbot ab und rannte in das Gebäude. Im ersten Stock stand die Tür zu einer Wohnung offen, aus der Stimmen ins Treppenhaus drangen. Das musste das Apartment von Marcks sein. In der Diele wäre Velten fast mit Susanne zusammengestoßen. „Was ist passiert“, fragte er aufgeregt.
„Hallo Max, komm am besten gleich mit ins Wohnzimmer, aber fasse nichts an. Die Spurensicherung wird sich noch hier umsehen.“
Hinter ihr betrat er den Raum, den sich Marcks als Wohn- und Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Er war nur spärlich möbliert. Velten wusste, dass seine junge Kollegin noch eine Wohnung in Mainz hatte, die sie natürlich wegen eines Volontariats in der Pfalz mit nur vagen Aussichten auf eine feste Redaktionsstelle nicht aufgegeben hatte. Man sah sofort, dass in dem kleinen Apartment ein heftiger Kampf stattgefunden haben musste. Der Schreibtischstuhl war umgekippt, die Stehlampe lag auf dem Boden. In der Fensterscheibe dahinter klaffte ein großes Loch.
Susanne deutete auf das zerborstene Glas: „Nachbarn haben die zerbrochene Scheibe bemerkt und den Notruf gewählt. Die Kollegen waren ein paar Minuten später hier. Die Wohnungstür stand halb offen und den
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