Eine Frage der Zeit
falscher Luxusuhr zu tun, die man am Handgelenk seines Komplizen und möglichen Mörders Martin Rothaar gefunden hatte? Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie woanders suchen musste.
Und dann traf sie die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Plötzlich erkannte sie, was sie und Velten übersehen hatten und mit einem Mal konkretisierte sich in ihrer Vorstellung ein Verdacht, der so ungeheuerlich war, dass ihr der Atem stockte und sich ihr buchstäblich die Nackenhaare aufstellten.
„Das kann doch nicht sein“, murmelte sie atemlos. Sie griff sich den Ordner mit den Akten zum Kunstraubfall und blätterte hektisch darin herum, bis sie schließlich die gesuchte Information fand - und tatsächlich: die Übereinstimmung war unübersehbar. Gedanken schossen durch ihren Kopf. Fragmente, die bislang in keinem Zusammenhang zu stehen schienen, fügten sich nun wie Puzzleteile oder Mosaiksteine zusammen und ergaben ein Bild, ein Gesicht. Plötzlich bekam alles einen Sinn. Die Leiche im Pfälzerwald, die tote Zahnärztin, vielleicht sogar das mysteriöse Verschwinden von Thomas Schatz, dem Angestellten des Kunstsammlers Konstantin Landau. Und sie erkannte, wie Bernd Fleischmann in dieses düstere Komplott passte. Die Rolle des Zuhälters in diesem verworrenen Fall würde Velten überhaupt nicht gefallen.
Sie griff zum Handy und wählte die Nummer ihres Kollegen. Sie musste ihm unbedingt von ihrer Entdeckung erzählen. Doch in der Redaktion erreichte Katja nur Renate Knab, die ihr mitteilte, dass Velten noch nicht zurück sei. Sie wählte seine Handy-Nummer, doch auch nach zehnmaligem Läuten nahm er das Gespräch nicht an. Er hatte noch nicht einmal die Mailbox aktiviert. Typisch für Velten, dachte sie verärgert. Mit bebenden Fingern schickte sie ihm eine SMS: „Weiß, wer der Mörder ist! Alles nur eine Frage der Zeit. Warte auf Sie in meiner Whg. Pettenkoferstr. 38. KM“
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Am frühen Abend stellte Velten seinen Mercedes auf dem Parkplatz vor seiner Wohnung ab und ging zu Fuß zur nahegelegenen Autowerkstatt, wo die von Fleischmann demolierte Frontscheibe des Golf gegen eine neue ausgetauscht worden war. Er hatte Turgay, den Inhaber der kleinen Schrauberbude, am Vormittag telefonisch mit der Reparatur beauftragt. Der türkischstämmige Mechaniker, der ihn auch beim Aufbau des alten Mercedes unterstützt hatte, besaß Ersatzschlüssel für Veltens Autos und hatte den ramponierten VW vom Parkplatz beim Pressehaus abgeholt. Wie üblich gerieten die beiden Männer ins Fachsimpeln und planten, wie die Restauration des alten Benz weitergehen sollte. Der alte „Ponton“ musste vor dem Herbst unbedingt hohlraumversiegelt werden.
Nach einer Stunde verließ Velten Turgays Werkstatt und steuerte einen Supermarkt an, um sich für das bevorstehende Wochenende mit Lebensmitteln zu versorgen. Wenig später saß er endlich auf seinem Balkon und gönnte sich ein kühles Feierabendbier. Die schwüle Wärme war kaum noch zu ertragen und am Horizont türmten sich gewaltige Kumuluswolken auf. Velten hoffte auf ein kühlendes Gewitter und ein Ende der tagelangen Hitze. Er dachte über das Gespräch mit Kreutzer nach. Er hatte viel über die verkorkste Ehe des Chefredakteurs erfahren, das er lieber nicht wissen würde, und wenig, das ihn in Bezug auf die Ermordung Stürmers oder den Kunstraub weiterbringen könnte. War dieser Mann fähig, einen Menschen umzubringen? Diese Frage beschäftigte Velten, seit er Kreutzers Haus verlassen hatte. Er war lange genug Journalist, um zu wissen, dass fast jeder unter bestimmten Umständen für eine Sekunde die Kontrolle über sich verlieren und eine anderen im Affekt verletzen oder gar töten konnte. Er hatte Dutzende von Berichten über solche Tragödien geschrieben. Eifersucht, Hass oder das Gefühl, eine lange Kette von Demütigungen nicht länger ertragen zu können, hatten schon viele Menschen gewalttätig werden zu lassen. Doch Stürmer war nicht einfach in einem spontanen Gewaltausbruch umgebracht worden. Wer immer für seinen Tod verantwortlich war, hatte die Tat sorgfältig geplant. Er hatte sein Opfer mit einer List in den Wald gelockt oder ihn mit vorgehaltener Waffe zu dem abgelegenen Ort unterhalb der Altschlossfelsen gezwungen. Dann hatte er Stürmer zuerst niedergeschlagen und dem wehrlosen Mann dann mit einem Knüppel brutal den Schädel zertrümmert. Nein, das war nicht die Tat eines Menschen, der im Affekt tötete und danach fassungslos und von sich selbst zutiefst entsetzt vor
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