Eine Frage des Herzens
einfallen, wenn es an der Zeit war, ihm zu sagen, was sie empfand. Und sie dankte Gott für alles, was Er ihr gewährt hatte, allen dreien, insbesondere aber für die Zeit, die sie miteinander verbringen durften, hier und jetzt.
Es gab kleine und große Geschenke im Leben. Vor einigen Jahren, als bei Schwester Felicity Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, hatte sie alles gelesen, was ihr über bahnbrechende Fortschritte bei der Erforschung dieser Krankheit in die Hände fiel. In einem Artikel hieß es zu ihrer großen Verwunderung, dass bei einer Frau, die ein Kind geboren hatte, noch Jahre nach der Entbindung Zellmaterial des Embryos nachweisbar sei. Die Zellen lebten im Körper der Mutter fort. Während man in dieser Entdeckung einen Hoffnungsschimmer für die Medizin sah, weil diese Zellen noch nach Jahrzehnten regenerationsfähig waren und den Müttern bei der Überwindung der Krankheit helfen konnten, leitete Bernie daraus eine wesentlich einfachere Schlussfolgerung ab.
Sie hatte die medizinische Fachzeitschrift beiseitegelegt und war in Tränen ausgebrochen. Sie hatte sich ihrem Sohn immer nahe gefühlt, hatte seine Gegenwart gespürt und ihn seit seiner Geburt in ihren Gebeten umfangen. Doch zu erfahren, dass seine Zellen in ihr weiterlebten, dass sie immer noch miteinander verbunden waren, Mutter und Kind, war das wundervollste Geschenk, das sie sich vorstellen konnte.
Sie waren nicht wirklich zusammen, nicht auf der physischen Ebene – bei Spaziergängen, Gesprächen, Interaktionen. Doch ein Teil ihres Sohnes begleitete sie auf Schritt und Tritt, wie sie nun wusste. Als sie an jenem Abend im Bett saß und las, hatte sie geweint, weil Tom diese innige Beziehung versagt war. Er hatte das Baby nicht ausgetragen wie sie. Und er litt doppelt, weswegen sein Kummer in vieler Hinsicht schwerer wog als ihrer.
Denn Tom hatte keine Wahl gehabt. Zumindest nicht wirklich. Als sie beschlossen hatte, das Kind wegzugeben und ins Kloster einzutreten, war Tom gezwungen gewesen, sich ihrer Entscheidung zu fügen. Darüber hatte Maria an jenem Morgen zu ihr gesprochen. Darüber und über andere Dinge.
Als sie nun in Richtung Süden brausten, betete Bernie um Kraft. Sie spürte die Anspannung, unter der Tom und Seamus standen, weil sie befürchteten, nicht rechtzeitig anzukommen, um Kathleen abzufangen. Sie hätte die beiden gerne beruhigt und ihnen erzählt, was sie wusste. Aber sie traute ihrer eigenen Stimme nicht.
Und so betete sie den Rosenkranz, bewegte lautlos die Lippen. Als sie die Newport Bridge erreichten, die hoch über der Narragansett Bay aufragte, sahen sie die ganze Stadt zu ihren Füßen ausgebreitet. Seamus presste das Gesicht gegen die Scheibe. Er spürte vermutlich, wie nahe sie Kathleen waren. Die Liebe ihres Sohnes war wie ein Leuchtfeuer, das ihnen den Weg wies.
»Wir sind gleich da«, sagte sie, als sie Seamus’ Blick gewahrte.
Er nickte, und seine Augen strahlten.
»Nur noch ein paar Minuten«, fügte Tom hinzu.
Seine Worte klangen wie eine Prophezeiung, und sie drangen in Bernies Herz. Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen, einander so nahe zu sein war ein überwältigendes Gefühl. Dass sie Ordensfrau war, spielte in diesem Moment keine Rolle. Sie ergriff Toms Hand und hielt sie fest. Er sah sie beinahe erschrocken an, doch dann begann er vor Glück zu strahlen, ein Anblick, den sie kaum ertragen konnte. Die Perlen des Rosenkranzes in ihrer rechten Hand, setzte sie ihr stummes Gebet fort, doch mit ihrer Linken hielt sie Toms Hand und machte keine Anstalten, sie loszulassen.
25
K athleen kauerte, in eine Decke gehüllt, auf dem Fußboden des verborgenen, mit Brettern vernagelten Bereichs im Dachgeschoss, am anderen Ende des Ganges, in dem sich ihre Schlafkammer befand. Ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich kalter Wind drang durch die Risse im Mauerwerk und die nackten Bodendielen. In diesen spartanisch eingerichteten überzähligen Räumlichkeiten des Herrenhauses, in dessen unteren Stockwerken fast jede Handbreit vergoldet, versilbert, marmoriert oder mit kunstvollen Schnitzereien versehen war, fühlte sie sich beinahe heimisch.
Und nicht nur das, sie waren ein ideales Versteck. Hier würde sie niemand finden. Die Familie würde zu dem Schluss gelangen, sie habe sich aus dem Staub gemacht. Ihren Koffer hatte sie hinter einem alten gesprungenen Drehspiegel verstaut, der in der Ecke stand. Wenn sie keinen Muckser von sich gab, würden sie annehmen, sie sei sang- und klanglos durch die
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