Eine Frage des Herzens
Hintertür verschwunden. Sie bedauerte nur, dass sie sich nicht mehr von Andrew verabschieden konnte, doch sie hoffte, dass er sie verstehen oder seinen Kummer wie gehabt in Alkohol ertränken würde.
Sie konnte hier oben bleiben, im Dunkeln, damit die Nachbarn nichts von ihrer Anwesenheit bemerkten, bis sie sich ihren nächsten Schritt überlegt hatte, wobei es weniger um sie als vielmehr um das Baby ging. Bei jeder Entscheidung galt es, seine Interessen zu bedenken. Das war das Einzige, was zählte. Sie konnte ihr Kind nicht im Stich lassen, keine einzige Sekunde, nicht einmal jetzt, im Frühstadium der Schwangerschaft. Ungeachtet der Schwierigkeiten, denen sie sich gegenübersah, konnte sie keinen Tag länger bei den Wells bleiben, so viel stand fest.
Pierce würde das egal sein. Er würde keinen einzigen Gedanken an sie verschwenden. Kathleen hatte ihr Geheimnis zu hüten gewusst. Ihre schwellenden Brüste hatten ihn erregt, aber er war nicht auf die Idee gekommen, nach dem Grund zu fragen. Sie verspürte keinerlei Schuldgefühle, weil sie ihm nichts von ihrem Zustand verraten hatte. Er verdiente es nicht, davon zu erfahren.
Dieser verborgene Bereich des Dachbodens war angefüllt mit alten Überseekoffern, Kleiderschränken und Gemälden, Familienporträts in prachtvoll verzierten Rahmen, die stapelweise an den grob verputzten Wänden lehnten. Seit sie zum ersten Mal die Nägel mit Hilfe eines Schraubenziehers entfernt und sich den Weg hinter die Holzlatten gebahnt hatte, war sie an ihren freien Nachmittagen einige Male hier oben gewesen, um den Verschlag zu erkunden.
Es war ein Museum, das Aufschluss über die Familienchronik der Wells gab. Alte Ballroben aus Samt, Seide und Satin hingen in den staubigen Kleiderschränken. Uralte vergilbte Spitzenunterröcke, die bei der leisesten Berührung zerfielen. Hutschachteln, die Bowler, Homburgs, flache Hüte und seltsame geblümte Hauben enthielten, die man trug, wenn man sich zu Ostern neu einkleidete, einige von ihnen über hundert Jahre alt.
Die Brautkleider waren getrennt voneinander in Schutzhüllen aufgehoben. Die Palette reichte von üppig bis bescheiden. Sie stammten aus dem Modehaus Worth in Paris, von Balenciaga oder Bonwit Teller, manche waren mit Perlen bestickt, andere aus schlichter weißer Seide. Doch es gab nur einen einzigen Schleier, der drei Jahrhunderte lang von jeder Braut in der Familie getragen wurde – von Mrs. John Quincy Adams III . bis hin zu June und Wendy. Die älteste Tochter ausgenommen. Louise …
Unten in der Bibliothek wurden Sammelalben von jeder Hochzeit in der Familie Wells aufbewahrt. Kathleen hatte gesehen, wie Beth die roten Lederbände behutsam abstaubte, denn sie waren genauso unschätzbar wertvoll wie das silberne Teeservice, das Porzellan aus Kanton und die Figurinen aus Limoges. Doch die Zeitungsausschnitte, die Louises Hochzeit erwähnten, befanden sich hier oben, im Dachgeschoss verborgen, in eine Schachtel gestopft, zusammen mit alten Kassenzetteln aus Lebensmittelgeschäften und Essens- und Getränke-Bons des New York Yacht Club – vergilbt und dem Zerfall preisgegeben. Sie waren so lieblos außer Sichtweite geschafft worden, gleichsam entsorgt wie Müll, dass Kathleen sich fragte, warum Mrs. Wells sie überhaupt aufbewahrt hatte.
Louise Wells hatte einen Schwarzen geheiratet. Sie hatten sich in Harvard kennengelernt. Er war Mediziner, stammte aus Mississippi und hatte eine Gastvorlesung an der Universität gehalten. Louise hatte dort Soziologie studiert. Die Zeitungsausschnitte gaben nicht besonders viel her. Aus den Seiten mit den Klatschspalten herausgerissen, war darauf ein hübsches Mädchen mit dunklen Augen und einer Ausstrahlung zu sehen, die noch heute, fünfzehn Jahre später, spürbar war. Kathleen fiel auf, dass sie den Familienschleier nicht trug.
Dieser Dachboden war also ein perfektes Versteck. Sie dachte an Louise, die ihrer grässlichen Familie die Stirn geboten hatte, der Liebe wegen, und fühlte sich ihr nahe, betrachtete sie als Engel oder Beschützerin. Sie zog die Decke enger um ihre Schultern, zitternd und bemüht, reglos sitzen zu bleiben. Die ständige Übelkeit und der Drang, Wasser zu lassen, waren ein Fluch. Doch sie musste sich zusammenreißen, bis die Familie abgereist war.
Es würde nicht mehr lange dauern. Sie wusste, dass sie geplant hatten, sich mit Freunden im Union Club in New York zum Abendessen zu treffen. Sie würden das Haus flüchtig nach ihr absuchen und
Weitere Kostenlose Bücher