Eine Frage des Herzens
tat, wie geheißen, trat lautlos in den Raum und wartete. Als Kathleen ihre Hosen hochgezogen und den Nachttopf außer Sichtweite gestellt hatte, räusperte sie sich.
»Wer bist du?«, fragte sie, als sich die junge Frau umdrehte und auf sie zukam.
»Regis Sullivan. Wir müssen sofort weg.«
»Was soll das heißen, weg? Was machst du hier?«
»Ich bin gekommen, um dich zu holen.«
»Mich holen? Großer Gott! Lass mich in Ruhe, bitte!« Kathleen fühlte sich einer Panik nahe. Wer war die Unbekannte? Sie trug die gleiche Tracht wie Beth. Offenbar arbeitete sie im Dienstleistungsgewerbe und war gerade erst eingestellt worden. »Und du solltest auch schauen, dass du dich in Sicherheit bringst«, fügte sie hinzu. »Geh schon, Regis. Lauf, vergiss das Ganze …«
»Nein. Ohne dich gehe ich nirgendwohin.«
»Mein Gott, du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Sie dürfen uns nicht hier finden, sonst schleppt uns die Familie mit. Und ich denke nicht daran, sie nach Palm Beach zu begleiten. Eher bringe ich mich um.«
»Das musst du nicht.« Regis ergriff ihre Hand. »Komm einfach mit mir …«
Kathleen schloss die Augen, ihr schwindelte. Sie war nahe daran, den Verstand zu verlieren, und dazu kam die Befürchtung, sich gleich übergeben zu müssen. Normalerweise hatte sie die morgendliche Übelkeit einigermaßen im Griff, aber diese Regis hatte sie dermaßen aus der Fassung gebracht, dass sie für nichts garantieren konnte. »Hör zu«, sagte sie so beherrscht wie möglich, »ich weiß nicht, wer du bist oder warum du hier bist. Ich bin verzweifelt, siehst du das nicht? Ich flehe dich an …«
»Kathleen, ich erkläre dir alles, sobald wir draußen sind«, versprach Regis. Ihre Augen waren lebendig, funkelten. Offenbar fiel es ihr schwer, ihr Geheimnis auch nur eine Minute länger zu bewahren.
»Nein, jetzt.«
»Ich kann nicht. Sonst würde ich die Überraschung verderben.«
Kathleens Augen füllten sich erneut mit Tränen. Überraschung? In was für einer Welt lebte dieses Mädchen? Kathleen konnte nichts mehr überraschen. Es gab Dinge, die sie schockierten, das ja, die sie verblüfften, entsetzten, aber Überraschungen waren für Kinder, für Erwachsene, die im Herzen jung geblieben waren, oder für Verliebte.
»Es gibt keine Überraschungen«, sagte Kathleen.
»Glaubst du an gar nichts mehr? Haben dir die Schwestern überhaupt nichts beigebracht?«
»Woher weißt du von den Schwestern?«, rief Kathleen und packte Regis in einer gewalttätigen Anwandlung an der gestärkten weißen Schürze, ließ sie aber umgehend wieder los. Was war nur in sie gefahren? War Regis möglicherweise ein Engel, den ihr der Himmel schickte? Doch die graublauen Augen wirkten überaus menschlich, und Kathleens Widerstand brach zusammen.
»Ich habe meinen Glauben verloren. Zusammen mit …« Plötzlich brach ein Tumult im ersten Stock aus. Sie fuhr zusammen und wollte fliehen, doch Regis umfing sie mit beiden Armen und hielt sie davon ab. Sie wehrte sich und versuchte Regis in ihr Versteck zu ziehen. Sie mussten mucksmäuschenstill sein, in einem der Schränke Zuflucht suchen, um zu verhindern, dass man sie entdeckte.
»Wie können Sie es wagen!«, kreischte Mrs. Wells. »Andrew, Pierce, ruft die Polizei!«
»Aus dem Weg!«, donnerte eine Stimme mit irischem Akzent, die einen Schauer über Kathleens Rücken jagte.
»Wir sind hier oben!«, rief Regis.
»Sei ruhig!« Kathleen hielt ihr den Mund zu, doch Regis ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Offenbar hatte die Familie sie geschickt. Auch wenn sie vorgab, der rettende Engel zu sein, sie war mit ihnen im Bunde.
Regis schüttelte sie ab und packte sie an den Schultern. Als wüsste sie, dass Überraschungen gleich welcher Art nicht mehr zählten, sah sie Kathleen mit einem liebevollen, beschwichtigenden Lächeln an. »Das ist
Seamus
…«
»Seamus?« Kathleen, die jetzt unkontrolliert zitterte, hatte keine Ahnung, wen um alles in der Welt sie meinte.
»Hier sind wir, hinter der grünen Tür!«, rief Regis.
»Nein!«, schrie Kathleen. Alles war aus, sie hatten sie aufgespürt. Sie würde um nichts auf der Welt mit ihnen nach Palm Beach fliegen, dann lieber auf der Straße leben, ohne Plan, wie es weitergehen sollte, ohne ein Dach über dem Kopf, mit einem Baby, das in ihr wuchs. Sie schluchzte auf.
Schritte näherten sich auf der Treppe und im Gang, Lärm, offenbar ein Handgemenge – das Krachen zersplitternder Bretter, Nägel, die mit Getöse aus den
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