Eine Frage des Herzens
schon ein ganzer Tag? Wir beide führen ein Leben, das auf die Ewigkeit ausgerichtet ist. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Das Leid der Prüfungen, die uns Tag für Tag auferlegt werden, bringt uns Ihm und der Ewigkeit näher.«
»Erspar mir deine Predigt. Mein spirituelles Leben geht dich nichts an, das ist eine Sache zwischen Gott und mir. Ich brauche den Namen meines Sohnes.«
»Sein Name ist männlicher Säugling X.«
»Ich möchte meine Akte einsehen.«
»Deine Akte ist Eigentum der Kirche. Du hast kein Anrecht darauf. Zu deinem eigenen Schutz, dem des Ordens und – was noch wichtiger ist, da dein Ego so groß zu sein scheint, dass du blind dafür bist – zum Wohl des Kindes.«
»Was soll das heißen?«
»Hast du
jemals
an ihn gedacht? An den jungen Mann, den du einen Tag nach der Geburt weggegeben hast? Du hast dich aus seinem Leben verabschiedet und dreiundzwanzig Jahre keinen einzigen Gedanken an ihn verschwendet. Ich sehe mich verpflichtet, seine Interessen zu schützen.«
»Seine Interessen schützen …« Einen Augenblick lang nahm Bernie die Aussage wörtlich. War Schwester Eleanor zum gesetzlichen Vormund ihres Kindes bestimmt worden? Sie wusste, dass der Orden ein Waisenhaus und mehrere Kinderheime in Irland unterhielt. In den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Geburt hatte sie Höllenqualen gelitten und zu entscheiden versucht, was sie tun sollte.
Eleanor Marie und – beruhigender – eine Nonne aus dem Krankenhaus, eine der Pflegeschwestern des Ordens, hatten ihr versprochen, dass sie sich persönlich um ihn kümmern würden. Er würde umsorgt werden, als wäre er ihr eigenes Kind, und umgehend, binnen weniger Tage, in einer wundervollen Familie untergebracht werden. Es gab eine lange Warteliste mit katholischen Paaren, die sich verzweifelt ein Baby wünschten und für eine Adoption in Frage kamen. Er würde in einer Familie aufwachsen, die ihn liebte, als wäre er ihr leiblicher Sohn.
»Das kann nicht sein«, stammelte Bernie. »Er hat eine Familie, keinen gesetzlichen Vormund. Ihr,
du
hast es mir versprochen, damals in der Klinik. Er würde in eine gute Familie aufgenommen, geliebt und umsorgt werden …«
»Ich meinte damit, dass ich mich verpflichtet fühle, sein Privatleben zu schützen«, erwiderte Schwester Eleanor Marie scharf. »Deine Akte befindet sich unter Verschluss, genau wie seine. Ich habe nur sein Interesse im Auge, Schwester. Was man von dir nicht behaupten kann.«
»Ich handle ausschließlich in seinem Interesse!« Bernie hieb mit der Faust auf den Tisch. »Er ist inzwischen dreiundzwanzig. Ich habe mich all die Jahre zurückgehalten und ihm ermöglicht, ungestört in seiner Familie aufzuwachsen, von seinen Eltern geliebt zu werden. Damit meine ich das Paar, das ihn adoptiert hat. Sie sind meiner Auffassung nach seine Eltern. Ich habe nicht einmal entschieden, ob ich mich ihm überhaupt zu erkennen geben soll. Ich möchte nur wissen, wie er sich entwickelt hat und ob er ein gutes Leben hatte.«
»
Du
entscheidest,
du
möchtest«, entgegnete Eleanor Marie höhnisch. »Du solltest dich hören, Schwester. Was ist mit Gott? Was hat der Herr mit dem jungen Mann im Sinn? Glaubst du, es sei ihm bestimmt, dass du nach so langer Zeit auftauchst und Chaos in einem Leben anrichtest, dem du den Rücken gekehrt hast? Kannst du dir die Verwirrung und die Seelenqualen vorstellen, in die du ihn stürzen könntest? Vielleicht hätte dein Eingreifen zur Folge, dass er sich von der Kirche abwendet.«
»Was willst du damit sagen?«
»Vielleicht ist er angefüllt mit Hass und Groll auf dich – eine Ordensfrau! Und das könnte sich rasch und tiefgreifend ausbreiten; es könnte seinen Glauben vergiften. Das kann und werde ich nicht riskieren. Ich fühle mich verpflichtet, über sein Seelenheil zu wachen.«
»Dazu besteht kein Anlass!«
»Bist du nicht mit Thomas Kelly nach Dublin gekommen? Schwester Theodore hat gesehen, wie er dich gestern herbrachte. Ich weiß, dass er dein Verwalter ist. Doch diese Verbindung hat etwas Sündhaftes, Schwester. Ich glaube, das treibt dich um, und nicht die Sorge um das Kind.«
Bernie blickte sie aufgebracht an, als Toms Name fiel. Von allen Vorwürfen, die Schwester Eleanor Marie ihr gemacht hatte, war das der niederträchtigste. Sie sah die Bosheit im Blick der Nonne. Sie versuchte sich vor Augen zu halten, dass Eleanor auch nur ein Mensch war, mit einer schwierigen Lebensgeschichte, dass sie Kummer und Leid aus eigener Erfahrung
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