Eine Frage des Herzens
wollte.«
»Die reinste Verschwendung«, sagte Sixtus abermals. »So ein hübsches Mädchen! Du hast den Kürzeren gezogen, Tom. Und dem Image der Kelly-Männer einen Schlag versetzt. Der Tag, an dem ein Mädchen es vorzieht, die ewigen Gelübde abzulegen, statt einem Kelly vor dem Traualtar ewige Treue zu schwören, ist ein rabenschwarzer Tag.«
»Ich bin ganz deiner Meinung«, erwiderte Tom.
»Aha. Also, ein letztes Mal. Was für eine Angelegenheit hat sie hier in Dublin zu erledigen?« Sixtus bedeutete dem Ober, Tee nachzuschenken.
Toms Herz klopfte. Er würde seinen Cousins mit Sicherheit kein Wort über Bernies wahren Grund verraten und wünschte, sie würden endlich Ruhe geben. Deshalb beschloss er, auf ihre Lieblingsstrategie zurückzugreifen, Scherze, um einem Gespräch über wichtige Belange aus dem Weg zu gehen.
»Überlassen Sie das mir.« Tom nahm dem Ober die silberne Teekanne aus der Hand und verbrannte sich an dem heißen Henkel. »Brauchst du jemanden, der dir morgens den Tee einschenkt? Erzähl mir ja nicht, dass dich die arme Emer auf diese Weise bedienen muss … Herrgott, Six, du bist verweichlicht. Was würde Tadhg Mor O’Kelly dazu sagen?«
»Jetzt hat er es dir aber gegeben.« Niall grinste und sah zu Sixtus hinüber.
Und dann stürzten sich seine Cousins in Familienmythen, Legenden und die Kunst, den anderen stets um eine Nasenlänge voraus zu sein, und Tom wusste, er hatte soeben ein wenig Zeit gewonnen.
3
D as Treffen mit Schwester Eleanor Marie war an diesem Tag zweimal verschoben worden, zuerst auf die Zeit unmittelbar nach dem Mittagessen und danach auf den Nachmittag. Beide Male hatte Schwester Bernadette Eleanors Büro aufgesucht und draußen auf dem Stuhl Platz genommen, nur um sich von Schwester Theodore, die mit schweren Schritten durch den Gang stapfte, sagen zu lassen, Schwester Eleanor Marie führe ein Telefonat und ob sie bitte zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen könne.
Das Schlimmste war, dass Tom auf sie wartete. Sie hatten verabredet, sich in O’Malley’s Pub zu treffen. Doch dann wurde das Gespräch verschoben, und sie konnte ihn nicht erreichen. Amerikanische Handys funktionierten in Irland nicht, aber das merkte sie erst, als sie zehnmal seine Nummer gewählt und sich vorgestellt hatte, wie er dort wartete, unweit von St. Stephen’s Green, alleine und ungeduldig.
Sie hatte gespürt, wie bereits nach der ersten Absage ein leiser Groll in ihr aufstieg oder sich neu entfachte, der sich nun vertiefte. Sie saß auf dem Lehnstuhl, den Blick auf die geschlossene Tür gerichtet, und hatte das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Eine Marienstatue stand in einer kleinen, erlesen gestalteten Wandnische. Bernie wandte sich ihr zu und bat um Erleuchtung, was sie tun, was sie sagen sollte, wenn es so weit war. Sie hatte schon immer Marias Liebe und leitende Hand gespürt, doch der Aufruhr der Gefühle hinderte sie im Augenblick daran, ihre Antworten zu vernehmen.
Als Schritte im Büro erklangen, richtete sie sich kerzengerade auf. Die Tür wurde aufgestoßen. Schwester Eleanor Marie stand auf der Schwelle, groß und hager, die dunklen Augen funkelnd hinter dem silbernen Brillengestell. Sie blickte Bernie durchdringend an. Bernie hatte das Gefühl, als würde sie mit Röntgenaugen begutachtet, ihr Innerstes nach außen gekehrt. Sie erhob sich und war dankbar, dass Eleanor Marie keine Anstalten machte, sie zu umarmen.
»Willkommen in Dublin, Schwester Bernadette Ignatius«, begrüßte sie Schwester Eleanor Marie mit ihrem Bostoner Akzent. »Willst du nicht eintreten?«
Sie nahmen einander gegenüber am Schreibtisch Platz. Bernie musterte das Büro mit raschem Blick – Bücher, aufgereiht in Bücherschränken mit Glasfront, ein schlichter Mahagonischreibtisch, leer bis auf eine Schreibunterlage, Stifte, Schreibblock und eine laut tickende Messinguhr, ein Kreuz an einer Wand, ein Marienbildnis an einer anderen Wand, Aktenschränke aus Holz, durch die schmiedeeisernen Gitterstäbe einer Rundbogentür hinter dem Schreibtisch sichtbar.
Der Anblick der Aktenschränke löste ein Prickeln in Bernie aus. Sie wusste aus ihrer eigenen Erfahrung als Äbtissin von Star of the Sea, dass die Geheimnisse im Leben aller Ordensschwestern in einem Dossier enthalten waren, das über jede einzelne angelegt wurde. Für Bernie waren sie kostbar – die Biographien ihrer Mitschwestern, die Informationen über die Familien, die sie in der Welt zurückgelassen hatten,
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