Eine Frage des Herzens
über die säkularen Hoffnungen und Träume, die sie nach reiflicher Überlegung gegen ein Leben des Gebets, der Kontemplation und der unermüdlichen Arbeit im Dienste des Herrn eingetauscht hatten.
»Nun, Schwester, was führt dich nach Irland zurück?«, sagte Schwester Eleanor Marie, hochaufgerichtet hinter ihrem Schreibtisch sitzend.
»Ich bin aus einem sehr persönlichen Grund hier.«
Schwester Eleanor Maries Augen funkelten hinter den Brillengläsern, doch ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. »Die Bindung zu deinem persönlichen Leben war schon immer sehr stark. Zu deiner Familie. Hast du selbst nach so vielen Jahren noch nicht gelernt, dass menschliche Beziehungen durch die Trennung geläutert werden?«
»Das ist eine Erfahrung, die ich jeden Tag mache«, erwiderte Bernie, insgeheim kochend.
Wieder das schnelle, harte Lächeln. »Wirklich? In einem Konvent, in dessen Geschichte du als junge Frau in solchem Maß eingebunden warst? Mit deinem Bruder und seiner Familie auf demselben Anwesen? Dann musst du stärker sein als ich. Ich musste meine Trugbilder vom Selbst mit aller Macht verbannen, Schwester. Und bin in unser Ordenshaus in Dublin eingetreten, weit von meiner Heimatstadt Boston entfernt.
Ex umbris et imaginibus in veritatem.
«
»›Von den Schatten und Vorstellungsbildern zur Wahrheit‹«, übersetzte Bernie. »Meine Wahrheit war stets die Liebe.«
»Zu deinem eigenen Schaden, wage ich zu behaupten.«
Bernie starrte sie über den Schreibtisch hinweg an.
»Behaupte, was du willst, Eleanor. Wir beide sind jetzt gleichrangig. Als wir uns das erste Mal begegneten, warst du Novizenmeisterin. Du hast mich durch das erste Jahr im Kloster geleitet. Nun stehen wir beide einer Ordensgemeinschaft vor. Ich bin nicht als Bittstellerin gekommen, sondern als Amtsgenossin.«
Eleanor Marie starrte sie an, und Bernie erbebte bis ins Mark. Was hatte diese Nonne an sich, das sie stets an einen Teufel erinnerte? Unmittelbar hinter der glatten Fassade schien sie von unterdrückter Wut erfüllt zu sein. Bernie erinnerte sich an das erste Jahr im Orden, als sie sich jeden Tag ihrem Kummer anheimgegeben hatte. Während die anderen Novizinnen sie getröstet und ihr auf dem Weg beigestanden hatten, der vom Schatten zum Licht führte, hatte es den Anschein, als würde sich Eleanor Marie an ihrem Schmerz weiden.
»Das war eine klare Aussage, Schwester«, erwiderte sie nun und lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich möchte wissen, wo er ist.«
»Er?«
»Mein Sohn«, sagte Bernie.
»Du hast keinen Sohn.«
»Wie kannst du es wagen!«
In Eleanor Maries Brillengläsern spiegelte sich der Lampenschein, ihre Augen glichen Kohlen auf dem Feuerrost eines Ofens, ein Inbegriff geballter Energie, brennend. »Du hast deine Wahl getroffen und auf ihn verzichtet. Niemand hat dich unter Druck gesetzt. Niemand hat dich gezwungen, ihn wegzugeben. Wenn ich mich recht erinnere, warst du sogar sehr darauf bedacht. Du hattest schließlich eine
Vision
.«
Bernie kämpfte gegen den Wunsch an, ihr das Gesicht zu zerkratzen. Sie würde ihr nicht die Genugtuung gönnen zu beobachten, wie sie zu dem Marienbild hinüberblickte. Die Einzelheiten der Vision waren allen Mitgliedern der Ordensgemeinschaft bekannt; sie waren von keinem Geringeren als dem »Wunder-Ermittler« unter die Lupe genommen worden, einem Fachmann für Marienerscheinungen aus Rom.
»Von dem Augenblick an, als du deinen Sohn zur Adoption freigegeben hast, hast du jedes Recht auf ihn verwirkt.« Eleanor Marie hielt inne, ihr Lächeln wurde härter und breiter. »Ich muss sagen, ich habe seit zwei Jahrzehnten mit diesem Besuch gerechnet. Ich dachte mir schon, dass sie sich im Lauf der Zeit wieder offenbart.«
»Sie?«
»Deine Schwäche. Mir war schon bei unserer ersten Begegnung klar, dass du für das Klosterleben nicht stark genug bist. Von allen Nonnen, die ich durch ihre achtjährige Prüfungsphase als Novizin und Postulantin begleitet und deren Ringen mit den Härten der Ordensregeln, dem Einfügen in die Gemeinschaft und dem Loslassen irdischer Bindungen ich beobachtet habe, warst du der Außenwelt am meisten verhaftet. Ehrlich gesagt, seit du Irland verlassen hast, um in unser Ordenshaus in Connecticut einzutreten, habe ich damit gerechnet, dass du irgendwann durch die Tür trittst und mir diese Frage stellst.«
»Hast du mich deshalb den ganzen Tag warten lassen?«
»Den ganzen Tag?«, wiederholte Eleanor Marie kalt. »Was ist
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