Eine Frau besorgen - Kriegsgeschichten
Ali Batazar, der mir Melinda Pipo in Obhut gegeben hatte, jedoch überhaupt nicht ähnlich sah, ganz im Gegenteil, der andere Ali Batazar, der im nahe gelegenen Makó als Leichenbeschauer tätig war, hatte feingliedrige Finger und neigte zur Melancholie, während Ali Batazar, der für gutes Geld den Rasen der Fußballmannschaft Fortuna Köln mähte, ein verlogener, aber freundlicher Typ war. Der Makóer Ali Batazar war deshalb Leichenbeschauer geworden, weil für ihn rein äußerlich alle Menschen einander ähnlich sahen – ein charakteristisches, unheilbares Symptom einer verschleppten Melancholie. Ich brauche wohl kaum zu sagen, wie entsetzlich Ali Batazar dort in Makó litt.
He, Jan Mošterović, rief er einer dicklichen Gestalt hinterher.
Aber das war doch Ivan Akoporsjan, der ihn anblinzelte!
Er ging mit Géza Basa in die Kneipe.
Dušan Pavlović soff seinen Schnaps.
Er machte Jennifer Blagas wiegenden Hüften den Hof.
Rosalia Fugger-Schmidt spuckte ihm Gift in die Augen.
Meine Frau, die Rosalia Fugger-Schmidt heißt, schloß sich mit Melinda Pipo in meinem Haus ein. Genügt es, wenn ich sage, daß mein Haus so war wie die Welt? Es sollte genügen. Hoho, und ich wußte sehr wohl, was sie taten. Rosalia Fugger-Schmidt fütterte Melinda Pipo, sie hatte beschlossen, sie aufzupäppeln, dafür zu sorgen, daß sie satt wurde. Das war einfältig, naiv, unverantwortlich, mir fehlen die Worte. Die Monate vergingen. Ali Batazar kam nicht zurück. Einmal bat ich einen meiner näheren Bekannten, einen albanischen Lastwagenzähler namens John McCoy, mir von der gesegneten Pforte der Berliner Volksbühne ein Programmheft mitzubringen. John McCoy lachte herzhaft, und einige Wochen später wand er mir die große Schnapsflasche aus der Hand, um den letzten Schluck abzukriegen. Wieder hatte ich richtig vermutet: Ali Batazar war nicht mehr Rasenmeister bei Fortuna Köln. Er war Schriftsteller und Regisseur geworden, und sein erstes Stück, der marathonhafte Einakter »Lauf zu den Dardanellen« wurde bereits mit alle Erwartungen übertreffendem Erfolg an der Volksbühne gespielt. Das Stück handelte davon, daß das so sehr zur Selbstironie neigende deutsche Volk sich im nächsten Jahrhundert auf die Flucht begeben wird, vor allem in Richtung Türkei, Kurdistan und Afghanistan. Die Deutschen arbeiten bei türkischen Familien, säen und ernten auf weitläufigen pakistanischen Feldern und verkaufen Zeitungen in Kabul, Warschau und Istanbul. Es wurde nicht ganz klar, was den Exodus ausgelöst hatte, das Stück jedenfalls wollte von existentiellen und wirtschaftlichen Gründen wissen, beziehungsweise von tiefenpsychologischen Zusammenhängen. Mir fiel sofort ein, daß ich meine Frau, Rosalia Fugger-Schmidt, und Melinda Pipo seit Monaten nicht gesehen hatte. Ich brach in mein Haus ein und begann sie fluchend und blindwütig zu suchen. Blieb ich in der Küche stehen, hörte ich vom Wohnzimmer her das Schmatzen. Kletterte ich auf den Dachboden, rülpste jemand im Keller.
Rosalia Fugger-Schmidt, schrie ich.
Ich bin hungrig, hörte ich Melinda Pipo.
Meine teure Frau, flüsterte ich gequält.
Ich bin hungrig, ächzte Melinda Pipo.
Leicht betrunken, ich leugne es nicht, dachte ich, daß alles vom Wohlwollen des Schicksals abhängt. Denn wo man mit den Launen des Schicksals rechnen kann, dort gibt es gewiß auch Geschichte, zumindest kann man von ihr sprechen. Und was tue ich jetzt anderes?! Der Weg einer Ameise hat etwas Schicksalhaftes. Doch muß man wissen, daß das Schicksal eine Aufgabe ist, in der wir die Gleichung sind, das heißt, daß niemals wir selbst es sind, die die Aufgabe lösen, wir unterziehen uns ihr nur. Und auch das Ergebnis ist nicht unseres, denn wir können aus unserem Schicksal weder lernen noch Ruhe schöpfen. Wenn aber eine unachtsam oder mutwillig erhobene Stiefelsohle einen ganzen Ameisenhaufen zertritt – darin liegt nun keinerlei Schicksalhaftigkeit. Ein am Unterarm tätowierter Schriftsteller hatte recht, als er es für das bedenkenswerteste Ereignis des Jahrhunderts hielt, daß eine bestimmte Gruppe von Menschen ihres persönlichen Schicksals beraubt wurde. Doch auch der Schnee hatte recht, wenn er zuweilen heimlich fiel. Ich hatte in Makó, Novi Sad, Segedin unzählige Freunde, doch irgendwann mußte ich einsehen, daß ich nur der Chronist des Verlustes sein konnte. Mir wurde bewußt, daß ich mich mein ganzes Leben nach Rosalia Fugger-Schmidt sehnen, daß die Erinnerung an sie meine Tage
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