Eine Frau besorgen - Kriegsgeschichten
hatte kein Hemd, keinen Unterrock oder dergleichen Kleidungsstücke an, sie war halb nackt. Sie waren überrascht worden. Oder die Leute, die ihnen den Garaus machten, hatten das Mädchen ausgezogen, bevor sie es vergewaltigten. Oder sie hatten sie erst getötet und dann vergewaltigt. Oder sie hatten Selbstmord begangen, der Enkel von Emil Arbanassi und seine Geliebte, als sie die fremden Männer erblickten, wie sie sich auf den Lattenzaun stützten, und deren Blicke sich, so meine ich, nur schwer von der Glut einer Zigarette unterscheiden ließen, an der jemand heftig zieht. All das sind nur wertlose Phantasien, natürlich. Man kann so vieles behaupten, erklären! Und warum sollte man sich nur auf eine einzige Lösung versteifen? Das Wesentliche war, daß der Enkel von Emil Arbanassi und eine junge Frau gestorben waren, dabei hatten sie gar keinen Grund dazu, sie hatten noch leben sollen, das wäre das Naheliegendste, das Richtigste in ihrem Leben gewesen, aber sie haben nicht selbst darüber entschieden.
Barbara Berlin markierte den Brunnen und erstattete über ihr Mobiltelefon Meldung. Bis wir zu Mittag gegessen hatten, war die Sondereinheit da, mit Hunden, elektronischen Suchgeräten, Minendetektoren. Mit zackigen Befehlen gingen die Jungs an die Arbeit. Wortlos traten wir den Heimweg an. Nur soviel noch, ich habe genau gesehen, wie Arbanassi auf dem Rückweg den Vogel zertrat.
Nach der Essensausgabe am Abend bat ich Barbara Berlin, auch mir die Suppe zu süßen. Zerstreut ließ sie es zu, daß ich ihr meinen Teller unters Kinn hielt. An den Lagerfeuern sangen Arbeiter aus Jakulevo. Jemand spielte hingebungsvoll Banjo. Nach einer Weile kam eine Lautsprecherdurchsage. Der englische Major, der ein Bein und eine Hand verloren hatte und Kommandant des Lagers war, hielt es für wichtig, die an den Ausgrabungen Beteiligten allabendlich zu begrüßen und zu ermutigen, die einfachen Hilfsarbeiter, wie ich einer war, und die Ingenieure, die Spurensucher und Chronisten, seine Ansprache richtete sich an alle. Die Sache war die, daß viele unter Berufung auf Brechreiz, Fieber, Halluzinationen am hellichten Tag und Schlaflosigkeit die Arbeit abbrachen, und das war, glaube ich, eine verständliche Ausrede, auch wenn es nicht stimmte. Man denkt, man legt ein Gebiet frei, man gräbt nur noch einen schmalen Erdstreifen zwischen zwei grün wuchernden, vom Gezwitscher der Vögel widerhallenden Waldstücken um, doch schließlich spürt man, daß alles umsonst ist, weil sich hinter den Wäldern wieder eine neue vielversprechende Wiese auftut, ein Tal, ein Bachbett, dann wieder eines und noch ein weiteres Gebiet, schließlich stellt man verblüfft fest, daß man genau dort ist, wo man angefangen hat, daß man, und nicht ohne Ergebnis, genau dasselbe Gebiet mit seinen Werkzeugen durchwühlt und aufscharrt, das unter großen Seufzern bereits abgehakt worden ist, von dem man geglaubt hatte, daß es von den stinkenden Überresten des Schicksals gesäubert sei, doch nein, wieder kommt einem ein bisher nicht bemerktes Haarbüschel vor die Füße, ein Fingerglied, eine Kindermütze, und man sieht ein, so dachte ich, und mein Gedanke war nicht gerade originell, daß man nichts anderes ist als der Zeiger der Zeit, der immer im Kreis läuft. Es war spät am Abend. In der Nähe schrie ein Kauz. Barbara Berlin breitete ihre Decke über sich, nahm einen Schluck aus der Tequilaflasche und machte sich zum Schlafen bereit.
Soll ich beten, fragte sie.
Wozu denn, Barbara, sagte ich.
Da ich ihr engster Arbeitskollege war, benutzte sie meinen Kopf als Kissen. Sie schlief reglos, ihre Schläfe an meine Stirn gedrückt, und ich durfte meine Hand unter ihr Kinn halten. Bis zum Morgen glitzerte auf meiner Handfläche Honig, Honig, Honig. Barbara Berlin räkelte sich entspannt.
Wir sollten Emil Arbanassi suchen, sagte sie gähnend.
Stimmt es, daß die Toten Meteoriten in den Händen halten?
Das stimmt nicht, sagte Barbara Berlin.
Stimmt es, daß auch Sie einen Himmelsstein haben, Barbara?
Es stimmt, aber ich habe ihn nicht in Jakulevo gefunden.
Der Bauer lebte damals noch in einem Zeltlager, unweit der Ausgrabungen von Jakulevo. Falsch: Das Zeltlager war ja ein Teil von Jakulevo, nur daß dort Menschen lebten, während in Jakulevo zwar auch welche lebten, natürlich, Arbeiter, Chronisten und Spurensucher, aber in der Mehrzahl waren es die Toten, die in der Tiefe der Erde ruhten, wenn man diese Form des Todes als Ruhezustand bezeichnen konnte,
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