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Eine Frau besorgen - Kriegsgeschichten

Eine Frau besorgen - Kriegsgeschichten

Titel: Eine Frau besorgen - Kriegsgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: László Darvasi
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brachte ich Baba Franciska den Goldzahn zurück. Meine Liebste lag im Sterben. Ich legte den Flaum eines Taubenjungen auf ihre Lippen und beobachtete, wie er sich von den Lippen hob. Dann regte sich der kleine Flaum lange nicht. Schließlich hob der letzte Seufzer, der eine Melodie, eine Geschichte, einen Sinn hatte, mit einem Wort, das letzte Seufzen, das noch eine Ausdehnung hatte, den Flaum hoch, mir zwischen die Finger. Ich weiß nicht, warum, aber mir fiel Milenka Carica ein.
    Am nächsten Morgen drang die Nachricht ins Dorf wie Gift. Siposka Sipos sei nicht mehr verrückt. Er sei wieder bei Trost. Oder besser erleuchtet. Er habe wieder alle Tassen im Schrank. Letztendlich egal. Selbst wenn er seinen Irrsinn gespielt haben sollte. Ich habe gesehen, wie er mit einem fremden Mädchen die Hauptstraße des Dorfes entlangtanzte, Arm in Arm. Er fing dem Mädchen eine Schwalbe, opferte ihm einen Hammel, und wenn sich einer aus dem Dorf nach seinem Namen erkundigte, winkte er nur ab und tanzte weiter. Nicht viel später, nachdem ich für Baba Franciska das Grab ausgehoben und die Boten der kalkweißen Würmer aus der Sandgrube von Berevac zertreten hatte, kam die neue Nachricht, daß Siposka Sipos wieder eine Tote gefunden hatte. Die Tote war jenes Mädchen, mit der Siposka Sipos seine Tage verbracht hatte. Die Leute sagten, sie heiße Eva Dubrovnik. Ich fragte in der Kneipe, warum sie glaubten, daß Siposka Sipos nicht mehr verrückt sei. Sie sagten, er weine bitterlich über dem toten Mädchen und flehe sie an, in dieser Welt nicht wieder aufzuerstehen.

Emilia Kaštja
    Auch Emilia Kaštja hatte als Kriegshure angefangen, aber neuerdings ging sie mit Predrag Nagy. Emilia Kaštja war von Kopf bis Fuß mit Gold und Schmuck behängt, und sie war schön wie das gefrorene Lächeln der Toten. Ich hatte trotzdem keine Angst vor ihr. Mein Vater war Totengräber gewesen, darum bin wohl auch ich einer geworden, mir war gar nicht in den Sinn gekommen, daß ich genausogut einen anderen Beruf hätte wählen können, daß ich auch, sagen wir, Lastwagenfahrer, Soldat oder Schmuggler hätte werden können. Bei uns ist jeder zweite Schmuggler, das sind die Verhältnisse. Lange schon habe ich mich den Toten verschworen, ich habe keine Angst vor ihnen, ich halte sie weder für schön noch für häßlich. Ich rede mit ihnen, lobe oder tadle sie, sage zu ihnen Dinge wie: Hej, Vladimir Kozma, war doch schade, sich so zu beeilen! oder: Tante Mara, Tante Mara, wie oft sich schon der Vollmond auf Sie gestürzt hat! Einmal hat mein Vater ein zehnjähriges Mädchen namens Mamia beerdigt, das gestorben war, weil – zumindest hieß es in Belgrad so – ihr Herz zu wachsen begonnen hatte. Sie trug Zöpfe, bunte Schleifen, ich erinnere mich genau. Ich stieg zu ihr in den geöffneten Sarg, legte mich neben sie. Und dann, zum ersten Mal in meinem Leben, wurde es gut. Ich rührte das Mädchen nicht an, lag nur daneben, bis sich endlich mein Samen ergoß, dann schlief ich ein, und so, glaube ich, fand mich die Mutter des Kindes, eine Hebamme aus Jakulevo. Es war ein großer Skandal, denn die Eltern von Mamia wollten mich anzeigen, sie zischten und schrien, ich hätte ihre kleine Tochter im Tod entehrt, worauf ich sie nur anschaute, und der Gedanke ging mir durch den Kopf, daß der Tod mit mir ist, und ausgerechnet da, genau in diesem Moment ertönte Radio Gibraltar.
    Es sagte die Namen durch.
    Ich hörte die Namen von Bekannten und Unbekannten, und sie waren alle schon tot, doch einmal, vielleicht vor zehn, vielleicht vor hundert, vor tausend Jahren hatten sie auf diesem Acker gescharrt, Mauern errichtet und Zäune zusammengetakelt, hatten hier mit dem Wind getanzt, mit dem Mondschein, hatten in den Armen des Scheiterhaufens gelegen, sich unter Schneeberge verkrochen, und manchmal hatten sie, einer Decke gleich, den Sternenhimmel über sich gezogen und darunter gebibbert.
    Seit etwa zehn Jahren gab es nicht einen Augenblick, in dem Radio Gibraltar in mir verstummt wäre. Manchmal wurde es sehr leise, aber nie ging es ganz aus. Ich halte das für keinen natürlichen Zustand, und ehrlich gesagt leide ich auch darunter, besonders seit ich verliebt bin.
    Ich habe zum Beispiel beobachtet, daß der Schatten von Emilia Kaštja unablässig tanzt, wenn sie geht. Ich habe auch beobachtet, daß sie oft Johannisbrot kaut, was bei uns als Zeichen unerträglicher Leidenschaft gilt. Ich habe auch gehört, und das gefiel mir ganz besonders, daß sie an Sommertagen

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