Eine Frau - Ein Bus
wieder neue Skripts geschickt, und im Lauf der Zeit hatte sich über Mails und am Telefon eine Freundschaft zwischen uns entwickelt. Wir diskutierten übers Schreiben und das Leben im Allgemeinen. Ich wusste, dass er und Tim sich gut verstehen würden, deshalb trafen wir uns zum Abendessen, als wir in der Nähe von Los Angeles waren. Ich hatte Recht. (Seither hat John uns auch schon in Boulder besucht.) Es ist wirklich witzig, wie manche Menschen in unser Leben treten. Und wie sie auch dort bleiben, wenn man sich die Zeit für sie nimmt.
Schließlich besuchten wir einen von Tims engsten Freunden, Dave, in der Nähe von San Francisco, mit dem er sich während der vier Jahre auf dem College ein Zimmer teilte. Dave war der unkomplizierteste Bursche, den Tim jemals kennen gelernt hat, und arbeitete als kaufmännischer Geschäftsführer einer bedeutenden Firma im Silicon Valley. Tim hatte Dave stets in vielerlei Hinsicht bewundert, und nun verstand ich auch, warum: Dave scheint sein Leben mit dem, was er hat, auf geradezu unglaubliche Weise zu genießen, ohne je das Bedürfnis zu haben, nach anderen Dingen Ausschau zu halten. Schon früh während ihrer Collegezeit hatte er genau für sich festgelegt, was er haben wollte und wohin ihn sein Weg führen sollte. Und genau das gelang ihm auch, und er scheint extrem zufrieden
mit dem Resultat zu sein. Nichtsdestotrotz hatten wir den Eindruck, dass er nicht minder glücklich wäre, hätte er all das nicht erreicht. Dies veranlasste Tim erneut zu der Überlegung, wie es möglich war, dass sein Selbstbild stets mit seinem Beruf als Mediziner verbunden gewesen war und er nun mit einem Leben auf drei Achsen nicht glücklicher sein könnte.
Als wir die Bay Area verließen und uns auf den Weg in die Redwoods machten, mussten wir wieder an die Geschichte von Scotty und seinem Schloss denken und uns vor Augen halten, dass Albert Johnson seine Prioritäten richtig gesetzt hatte, indem er der Freundschaft diesen hohen Wert beimaß. Wir dachten an all die Zeit, die wir zu Hause verbracht und … ja, was? … getan hatten. Wir konnten uns nicht daran erinnern, doch diese Besuche würden wir gewiss niemals vergessen. Was um alles in der Welt konnte wichtiger sein, als mit diesen wunderbaren Leuten in Verbindung zu bleiben? Uns fiel nichts ein.
Unmittelbar bevor wir über die Grenze nach Oregon fuhren, fing ich an, mit dem Fernseher zu reden - o.k., ich gebe es zu, ich schrie ihn an. Tim machte sich deswegen keine allzu großen Sorgen. Schließlich sind wir in unserer Branche ständig mit Menschen konfrontiert, die so etwas tun. Was ihm jedoch Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass der Fernseher mir antwortete.
Ich habe einen Abschluss in forensischer Psychiatrie, deshalb übten Gerichtsprozesse schon immer eine gewaltige Anziehungskraft auf mich aus. Mischen Sie noch einen fragwürdigen Modegeschmack und eine alte Motown-Connection hinzu, und schon liegt die Frage auf der Hand: Wie sollte ich dem Prozess um Michael Jackson widerstehen?
An den Vormittagen, die wir im Bus zubrachten, sah ich mir die Berichterstattung rauf und runter an, während ich meine Berichte schrieb. Eines Tages, als ich am Schreibtisch saß und mit einem Auge Court TV verfolgte, hatte Tim es sich vorn auf dem Zweisitzer bequem gemacht, las Zeitung und verspeiste sein Müsli. Eigentlich hatte er keinerlei Interesse am Prozessverlauf, doch angesichts des Platzmangels blieb ihm nicht viel anderes übrig, als hinzuhören.
Ich war der Meinung, ein interessantes Argument gefunden zu haben, auf das keiner der Kommentatoren jedoch einging, also schickte ich eine Mail an die Reporterin. Tim war mittlerweile daran gewöhnt, dass ich den Fernseher anbrüllte, wenn keiner etwas sagte, was meiner Meinung nach gesagt werden sollte, also achtete er nicht weiter auf mich. Das heißt, bis eine der Reporterinnen sagte: »Wir haben ein paar sehr interessante Zuschauermails bekommen, besonders von einer Dr. Doreen Orion, forensische Psychiaterin.«
Tim verschluckte sich prompt an seiner Milch. Ich wurde prompt stocksauer, denn als sie versuchte, mein Argument vorzubringen, vergeigte sie es dermaßen, so dass es völlig lahm klang. Als Tim wieder zu Atem gekommen war, wischte er die Milch vom Kinn, der Zeitung, seinem Hemd und dem Sofa. »Hast du das wirklich geschrieben? Das war total lahm.« Ich holte meine brillante Mail auf den Bildschirm und las sie ihm vor. »Gutes Argument«, musste er einräumen. Nicht einmal fünf
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