Eine Frau - Ein Bus
wenn man ihn genauer befragte, stellte sich heraus, dass er bereits Jahrzehnte zuvor begonnen hatte, sich mental auf seinen Ruhestand vorzubereiten. Wieso sich die Mühe machen und den Rasen mähen, wenn man es immer wieder tun muss? Kein Wunder nennt Tim mich in meinen fauleren Momenten »Henrietta«, ehe er sich fragt, wie um alles in der Welt er in einer Ehe mit einem alten jüdischen Mann enden konnte.
Natürlich bin auch ich nicht gegen stilistische Fehlgriffe gefeit. Seit meinen Mädchentagen hatte ich mein Haar immer lang getragen. Kurz nach unserer Ankunft in New York ließ ich mir einen Termin bei einem Friseur namens Nick Arrojo aus meiner Lieblingsverschönerungs-Show What Not to Wear geben. Natürlich wusste ich, dass er die ganze Pracht abschneiden wollen würde, und genau das tat er auch, obwohl er einigermaßen überrascht zu sein schien, dass ich nicht in Tränen ausbrach (was auch mich in Erstaunen versetzte). Tim kam mit, nicht nur weil er einmal einen Prominenten aus der Nähe sehen wollte, sondern um diesen Moment für die Nachwelt festzuhalten.
Nick schnitt also fröhlich an mir herum und zeigte sogar noch auf den wachsenden Haarberg auf dem Boden. »Hier! Das ist das Foto wert!« Ich muss zugeben, ich war ein wenig entsetzt, als mir dieser einstige Arbeiterklasse-Brite eine Lektion in königlichem Benehmen erteilte: Als er schnitt, ließ er mein Haar von einer jungen weiblichen
Angestellten zur Seite halten, statt es selbst mit Klammern auf dem Kopf zu befestigen. Ich war begeistert vom Ergebnis und konnte mich nur fragen, wieso es immer so lange dauerte, bis ich auf eine gute Idee kam - über die, in einem Bus durchs Land zu reisen, will ich jetzt lieber nicht reden.
Ein mehrwöchiger Aufenthalt an ein- und demselben Ort gab mir Gelegenheit, ein wenig darüber nachzudenken, inwiefern diese Busreise meinen »inneren Doug« ans Tageslicht gebracht hatte.
Mein geliebter Cousin Doug, dem ich näher stehe als irgendeinem anderen menschlichen Wesen außer meinem Ehemann, litt schon immer unter schrecklicher Flugangst. Und zwar so sehr, dass er einmal sogar mit dem Greyhoundbus von New York bis nach Mexiko gefahren ist, nur um nicht fliegen zu müssen.
Vor Jahren fand eine Familienfeier am anderen Ende des Landes statt. Da ich mich weigerte, mit dem Bus hinzufahren (oh ja, die gute alte Zeit), ließ er sich widerstrebend und nur nach dem Versprechen, dass ich ihm eine beachtliche Menge verschreibungspflichtiger Medikamente verabreichen würde, überreden, mich im Flugzeug zu begleiten. Es war eine herrliche Reise von vier Stunden - für mich -, da ich ihn quälte, indem ich in regelmäßigen Abständen die Finger um die Armlehnen krallte, »Hast du das gehört?«, rief und ihm panische Blicke zuwarf.
Könnte Doug mich doch jetzt nur sehen, wie ich im Bus sitze. Und obwohl wir im Lauf der Jahre oft über diesen Flug gelacht haben, habe ich mich bei unserem Wiedersehen in New York in aller Aufrichtigkeit bei ihm entschuldigt. Sein taktvolles Mitgefühl mit meinem neuesten Fortbewegungsmittel bedeutete mir sehr viel. Es zeigte mir auch, dass Grausamkeit einen für einen kurzen Moment
befriedigen kann, Mitgefühl jedoch viel länger anhält. (Nicht dass Doug immun gegen die Verlockungen des Ärgerns wäre, nein - immerhin ist er mein Cousin ersten Grades. Als Colorado einen besonders harten Winter erlebte, konnte er sich nicht beherrschen, mir eine Mail zu schicken: »Ich sehe, bei euch gab es gerade wieder einen Blizzard. Hat Tim dir schon davon erzählt?«)
Und noch etwas hat mir dieses zärtliche Necken eingebracht: Ich bin die Einzige in unserer Familie, einschließlich Eltern und sonstigen Verwandten, die jemals in Dougs Wohnung eingeladen wurde. Dort herrscht das absolute Chaos, selbst für meine Vorstellungen von Schlampigkeit. Tim und ich ziehen ihn immer damit auf, dass schwule Männer normalerweise doch einen ausgeprägten Hang zu Sauberkeit und erstklassiger Inneneinrichtung haben. Auf dieser Reise konnten wir unsere These sogar noch mit einem konkreten Beispiel untermauern: Das schwule Pärchen, das unser Haus gemietet hatte, war an einem Mittwoch eingezogen und hatte am Freitag eine Dinnerparty gefeiert. Nicht nur waren sämtliche Kartons verschwunden, nein, das Haus sah sauberer und aufgeräumter aus als je zu vor.
Doug wohnt seit 1997 in seinem Apartment und droht bis heute, das Badezimmer zu putzen. Allerdings erklärte er immer, er warte mit dem Austauschen des Teppichs, bis seine
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